EU: Orbán der Schreckliche? Vielleicht doch nicht
Wollen die Fraktion „Patrioten für Europa“ gründen (von li.): der Tscheche Andrej Babiš, der Österreicher Herbert Kickl und der Ungar Viktor Orbán.
Ungarns Regierungschef übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft und plant eine neue rechtsextreme Fraktion im Europaparlament. Warum in Brüssel bisher trotzdem keine Panik ausbricht.
Orbán der Schreckliche? Vielleicht doch nicht
Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen bitteren Ironie, wenn ausgerechnet eine Regierung wie die ungarische, die ständig gegen die rechtsstaatlichen und demokratischen Standards der Europäischen Union verstößt, auf Brüssel schimpft und mit erpresserischer Absicht Beschlüsse blockiert, die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Der Europaabgeordnete Daniel Freund von den deutschen Grünen kommentiert diese eher bizarre Bock-zum-Gärtner-Situation seit Monaten auf der Plattform X mit ätzenden Posts. Am Montag veröffentlichte Freund auf X ein Foto des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán, der dem russischen Diktator Wladimir Putin die Hand schüttelte. „Macht euch auf was gefasst“, schrieb Freund dazu.
Doch die EU funktioniert, wie die EU eben funktioniert: Alle sechs Monate rotiert die Ratspräsidentschaft unter den 27 Mitgliedsländern, alle sechs Monate bekommt eine andere Regierung die Aufgabe zugewiesen, für eine möglichst reibungslose politische Zusammenarbeit der Europäer zu sorgen. Am 1. Juli kam Ungarn dran, die Regierung in Budapest wird bis Ende des Jahres dafür verantwortlich sein, Ministerräte vorzubereiten und zu leiten, Verhandlungen mit dem EU-Parlament zu führen und europäische Gesetze zu betreuen – alles unter der Maßgabe, dabei als, so heißt es in Brüssel, „ehrlicher und neutraler Makler“ aufzutreten und nach Kompromissen zu suchen.
In den meisten Streitpunkten gibt Orbán nun nach
Nun käme niemand in Brüssel auf die Idee, Orbán ernsthaft als „ehrlichen und neutralen Makler“ in EU-Angelegenheiten zu bezeichnen. Aber von Panik ist zu Beginn der ungarischen Ratspräsidentschaft unter Diplomaten auch nichts zu spüren. Die allgemeine Einschätzung lautet: Orbán mag ein Autokrat, Putin-Bewunderer und EU-Verächter sein. Aber er hat ein Interesse daran, weiter Milliarden aus Brüssel überwiesen zu bekommen. Und er hat kein Interesse daran, Ungarn sechs Monate lang wie ein beleidigtes Rumpelstilzchen aussehen zu lassen. „Er will eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft“, sagt ein Diplomat über den ungarischen Regierungschef. „Dass er darunter inhaltlich etwas anderes versteht als andere Regierungen, ist allerdings klar.“
Diese Einschätzung wird unterfüttert durch das Verhalten Ungarns in den vergangenen Wochen. So hat Budapest sich bei einigen Dossiers, bei denen es früher immer Streit gab, nicht mehr quergestellt. Das gilt zum Beispiel für die Ukraine. Die EU konnte im Juni ein 14. Sanktionspaket gegen Russland verabschieden, zudem ein Sicherheitsabkommen mit Kiew schließen und – mit Zustimmung Budapests – die Beitrittsgespräche mit der Ukraine eröffnen, gegen die Orbán voriges Jahr monatelang agitiert hatte. In den nächsten sechs Monaten kann die EU-Kommission nun ohne ungarische Einmischung mit Kiew arbeiten.
Auch mehrere Beschlüsse über EU-Finanzhilfen für Kiew hat Orbán in den vergangenen Monaten mitgetragen, er blockiert lediglich noch einen Hilfsetat, aus dem Waffenlieferungen bezahlt werden. Beim jüngsten Gipfeltreffen in Brüssel wurde er im Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij gesehen, angeblich steht sogar ein Besuch des Ungarn in der Ukraine an. „Mit Blick auf die Ukraine war der wichtigste Monat der ungarischen Ratspräsidentschaft der Juni“, sagt ein Diplomat.
Diplomaten befürchten keinen nennenswerten Schaden durch Ungarns Ministerpräsidenten
Da das neue Europaparlament und die neue EU-Kommission ihre Arbeit ohnehin frühestens im Herbst voll aufnehmen werden, ist der Schaden, den Ungarn anrichten kann, nach Ansicht von Diplomaten ziemlich begrenzt. „Vielleicht bleibt am Ende nicht mehr davon übrig als dieser lächerliche Slogan“, sagt ein Beobachter in Brüssel. Er meint damit das offizielle Motto, das Orbán seiner Ratspräsidentschaft gegeben hat: „Make Europe great again“, eine provokante Anlehnung an Donald Trumps Wahlkampfparole „Make America great again“.
Auch ein zweites Brüsseler Orbán-Projekt sieht auf den ersten Blick womöglich bedrohlicher aus, als es ist: die Gründung einer neuen rechtsextremen Fraktion im Europaparlament, bei der seine derzeit fraktionslose Fidesz-Partei unterkommen soll. Die neue Allianz verkündete Orbán am Sonntag stolz zusammen mit dem Chef der österreichischen FPÖ, Herbert Kickl, und dem ehemaligen tschechischen Regierungschef Andrej Babiš, der seine Partei Ano einbringt. Zusammen wollen die drei Rechtspopulisten die Fraktion „Patrioten für Europa“ formen, die sich gegen Migration, gegen Klimaschutz und für die Eigenständigkeit der EU-Mitgliedsländer einsetzen soll.
Die drei Parteien verfügen im EU-Parlament zwar über die 23 Abgeordneten, die nötig sind, um eine Fraktion zu bilden. Aber sie bräuchten, um diesen Status zu erlangen, noch Partner aus mindestens vier weiteren EU-Ländern. Nur dann könnte Orbán sein sehr hochgestecktes Ziel erreichen und die rechtsnationale EKR-Fraktion, die von den italienischen Postfaschisten beherrscht wird, als drittstärkste Kraft im Europaparlament ablösen.
Zwei rechte Parteien, die Sitze und Prestige bringen würden, böten sich theoretisch für ein Bündnis mit Orbáns „Patrioten“ an: der französische Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und die polnische PiS-Partei. Doch die PiS, die derzeit noch zur EKR-Fraktion gehört, ist, bei allem verbindenden Hass auf das angeblich linksgrüne Brüssel, dezidiert russlandfeindlich – mithin das Gegenteil von Orbán. Der RN wiederum ist mit 30 Abgeordneten die führende Kraft in der rechtsextremen ID-Fraktion. Die Lepenisten dort herauszubrechen, das muss Orbán, dessen Partei nur zehn Sitze hat, erst einmal schaffen.