„Alternative nur eine Regierung der Linken“: Ist Frankreich noch vor einer Rechtsextremen-Machtübernahme zu retten?
Die Möglichkeit, dass die Rechtsextremen in Frankreich an die Macht kommen können, ist real, sagt Politologe Samuel Hayat. Wie das noch verhindert werden könnte.
Marine Le Pen.
Herr Hayat, bis Sonntagabend hat Präsident Macron das Linken-Bündnis ebenso verteufelt wie den rechtsextremen Rassemblement National (RN). Für den zweiten Wahlgang ruft er zu einer Allianz gegen diesen auf. Das sieht nach einer Kehrtwende aus, oder?
Ich denke nicht, dass dies ein radikaler Positionswechsel von Macron ist, sondern eine pragmatische Anpassung an eine Situation, die er nicht kontrolliert.
Vermutlich war seine Idee bei der Parlamentsauflösung, ein republikanisches Bündnis um seine Parteien-Koalition herum zu schmieden, mit den Republikanern, Linken und Grünen, aber ohne „La France insoumise“ (LFI) von Jean-Luc Mélenchon.
Doch die Dynamik des neuen Linksbündnisses „Neue Volksfront“ hat ihn völlig überrascht. Da hatte es schon viele Kontakte seit 2022 gegeben und ein fertiges Programm, sodass sie sich in Rekordzeit zusammengeschlossen haben, inklusive der LFI. Auch hat das Bündnis in einem Drittel der Wahlkreise Kandidaten des LFI eingesetzt. Daher kann es kein republikanisches Bündnis unter Ausschluss der Kandidaten von Mélenchon geben.
Also wieder nur Taktik?
Macron ist und bleibt ein politischer Stratege. Sein Vorgehen ist sehr geschickt: Die Kandidaten der Präsidentenpartei werden – anders als die des Linken-Bündnisses – nicht systematisch auf Kandidaturen zugunsten der Linken verzichten. Jedenfalls nicht, wenn ein LFI-Kandidat die Linke vertritt.
Das wird dazu führen, dass die Macronisten, die auf etwa 20 Prozent gekommen sind, am Ende ungefähr so viele Abgeordnete wie das Linkenbündnis im Parlament haben, obwohl diese fast 30 Prozent erhalten hat.
Und was dann?
Damit will Macron vielleicht schon die Zeit nach dem zweiten Wahlgang vorbereiten. Dann könnte man versuchen, die sozialdemokratischen Kräfte dazu zu bringen, das Linkenbündnis zu verlassen und eine Regierung zu bilden, die von Macronisten und – warum nicht? – der LFI unterstützt wird.
Aber das ist sehr unsicher. Dazu müssten die sozialdemokratischen Parteien davon überzeugt sein, dass sie mehr gewinnen können, wenn sie mit den Macronisten kooperieren als mit dem Versuch, eine Regierung der Neuen Volksfront zu bilden.
Ist Jean-Luc Mélenchon ein Problem für Wähler der Mitte im zweiten Wahlgang?
Ja, es ist schwierig für Wähler der Mitte, für France Insoumise zu stimmen im Zweikampf mit Kandidaten des RN. Denn die Partei präsentiert sich rhetorisch als eine revolutionäre Partei. In ihrem Programm ist sie aber sozialdemokratisch. Diese doppelte Identität macht die Attraktivität der Partei und ihren Erfolg aus.
Aber damit ist sie ein Schreckgespenst für Wähler der politischen Mitte. Für sie ist Jean-Luc Mélenchon ein Jean-Marie Le Pen der Linken – beides politisch Radikale. Das wird verstärkt durch den autoritären Charakter der Partei, die gar keine Partei ist, sondern eine Bewegung.
Alle Entscheidungen werden von Mélenchon und einigen Vertrauten getroffen. So hat er internen Widersachern keine Wahlkreise gegeben.
Die Mitte und die Linke passen also nicht zusammen?
Die Leute der politischen Mitte haben immer Angst vor der Linken, weil sie Angst vor Unordnung haben. Für die Linken ist es ein Ausdruck von Demokratie, wenn die Menschen demonstrieren gehen oder streiken. Die Extremrechten sehen darin Chaos.
Für die Wähler der Mitte ist es komplizierter, weil sie eigentlich die öffentlichen Freiheiten hochhalten, aber Unordnung hassen und ihnen diese Kultur fremd ist. Daher schreckt Mélenchon viele Wähler ab.
Kann Frankreich noch gerettet werden vor einer absoluten Mehrheit der Rechtsextremen?
Die Möglichkeit, dass die Rechtsextremen sogar mit einer absoluten Mehrheit an die Macht kommen, ist real. Das wäre auch in Europa einmalig, weil sie dort immer in Koalitionen an der Macht waren oder sind. Aber wir haben ein Zwei-Kammer-System, und im Senat hat der RN nur drei Vertreter.
Er wird von den klassischen rechten Republikanern dominiert. Im Fall eines Konflikts entscheidet zwar die Nationalversammlung, aber die Prozesse würden sich verlangsamen.
Noch wichtiger ist, dass Teile des Programms des RN verfassungswidrig sind, insbesondere die Benachteiligung von Ausländern bei der Sozialversicherung oder die Einschränkungen für Doppelstaatler. Sie müssten also die Verfassung ändern – was aber nur geht, wenn der Präsident ein Referendum ausruft oder beide Kammern das fordern. Was beides nicht passieren wird.
Das ist aber nicht unbedingt eine gute Nachricht. Denn die Rechtsextremen würden in der Zeit ihre Leute in die Ministerien setzen, an die Spitze wichtiger nationaler Organisationen. Und dann werden sie sagen: Seht her, wir können noch immer unser Programm nicht durchsetzen, wir brauchen bei der Präsidentschaftswahl 2027 eine Mehrheit. Das wird ein starkes Argument sein. Ich fürchte, dass es funktionieren kann.
Das ist also kaum zu verhindern?
Die einzige Möglichkeit ist eine alternative Regierung der Linken, die den Menschen wieder Hoffnung gibt, sodass sie 2027 anders wählen. Ansonsten sehe ich nicht, wie Frankreich mittelfristig einer Machtübernahme durch die Extremrechten entgehen kann. Macron hatte eine Zeitlang diese Alternative verkörpert, aber es hat nicht funktioniert.
Eine richtig konservativ-rechte Regierung à la Nicolas Sarkozy ist unmöglich, weil es diese politische Kraft nicht mehr gibt. Sie ist von den Rechtsextremen aufgesogen worden. Daher bleibt als Alternative jetzt nur eine Regierung der Linken.