EM 2024: Für die Ersatzleute im DFB-Team gibt es ein Anti-Frust-Konzept
Robin Koch (r.) hat bislang als einziger Ersatz-Feldspieler der deutschen Nationalmannschaft noch keine Einsatzzeit bei der Heim-EM bekommen.
Als am Samstagabend die Nationalhymne im Dortmunder Stadion gespielt wurde, sah man einen deutschen Ersatzspieler besonders inbrünstig mitsingen: Robin Koch. Hat der Bursche früher in seiner Pfälzer Heimat vielleicht im Chor gesungen? Die Frage ist noch nicht geklärt. Nach dem Schlusspfiff war der Verteidiger von Eintracht Frankfurt mittendrin in den Feierlichkeiten. Aber zu diesem Zeitpunkt und den Einwechslungen von Waldemar Anton und Benjamin Henrichs wusste Koch natürlich auch: Bis auf ihn selbst sind sämtliche der 23 nominierten Feldspieler bereits zu einem EM-Einsatz gekommen.
Julian Nagelsmann hat nach dem 2:0-Achtelfinalsieg über Dänemark eigens auf die Teamhygiene hingewiesen. Er weiß natürlich: Jeder Fußballer schaut, oft gepusht von Umfeld, Familie und Berater, zuerst einmal auf sich. Das Personalmanagement eines Trainers ist hochsensibel: Das unterstützende Verhalten der Ersatzleute, sagt der Bundestrainer also, sei „ein Schlüssel, dass es besser läuft als zuvor. Die Akzeptanz von Spielern, die nicht so eine leichte Rolle haben, ist unfassbar wichtig. Wir haben viele Charaktere, die nicht die Minuten sammeln wie andere, die aber den Laden extrem gut zusammenhalten. Das hat mit Selbstlosigkeit zu tun, sich nicht wichtiger zu nehmen als die Gruppe, sich in den Dienst der Mannschaft stellen.“
Er suche regelmäßig das persönliche Gespräch und „sage den Spielern, die hinten dran sind: Das darf nicht einreißen. Da kann man mal in die Faust beißen und sich sagen: ,Ich mache so weiter!‘ Der Gesamterfolg steht im Vordergrund.“ Nagelsmann kann „vor allen, die da draußen sitzen, nur den Hut ziehen“. Erst recht vor Robin Koch. Der ist in Frankfurt ein Führungsspieler. Beim DFB-Team wusste er von vorneherein, dass er eine ganz andere Rolle einnimmt: das Trainingsniveau und die Stimmung hochhalten. Er muss jetzt tapfer sein, auch wenn es gerade kein leichtes Los ist.
Nagelsmann hat mit seinen Assistenten Sandro Wagner und Benjamin Glück sehr emphatisch darauf geachtet, Einsatzzeiten klug abgestimmt nach regionaler Zugehörigkeit zu verteilen: In München wurde Bayernprofi Thomas Müller eingewechselt, in Stuttgart die VfB-Angreifer Chris Führich und Deniz Undav, in Dortmund die BVB-Recken Emre Can und Niclas Füllkrug. Es ist eine Strategie, Frust vorzubeugen. Das Verhalten der Leute aus der zweiten und dritten Reihe „versuchen wir, zu belohnen“, erklärt Nagelsmann, „das werden wir auch so weitermachen.“ Beim 1:1 gegen die Schweiz in Frankfurt gab es aber aufgrund des Spielverlaufs keine konkrete Möglichkeit, Defensivmann Koch einzuwechseln.
Ursprünglich hatte der Bundestrainer geplant, statt eines erlaubten 26-Mann-Kaders nur 23 Profis inklusive drei Torhüter zu nominieren. Nagelsmann wollte so schlechter Stimmung unter den Ersatzspielern begegnen. Er wusste ja: Selbst beim WM-Sieg 2014 waren im 23er-Aufgebot neben den beiden Ersatztorhütern Ron-Robert Zieler und Roman Weidenfeller auch die Feldspieler Erik Durm, Matthias Ginter und Kevin Großkreutz zu keiner einzigen Einsatzminute gekommen.
Aber inzwischen darf nicht nur dreimal, sondern fünfmal ausgewechselt werden. Also überlegte es sich Nagelsmann anders, nominierte zunächst 27 Spieler, darunter ungewöhnliche vier Torhüter. Nach dem letzten Testspiel wurde Keeper Alexander Nübel dann doch nach Hause geschickt. Streichkandidat Koch – nach seiner Leihe seit Montag fix von Eintracht Frankfurt verpflichtet und laut dem Fachmagazin Kicker mit einer Ausstiegsklausel von 20 Millionen Euro versehen – durfte bleiben. „Sich gemeinsam als Mannschaft zu fühlen, ist gerade bei einem so bedeutenden Turnier wie einer EM sehr wichtig“, sagte Koch im März im Interview mit der Frankfurter Rundschau, denn: „Es funktioniert nur, wenn alle in eine Richtung vorwärtsgehen. Nur dann wird sich Erfolg einstellen. Ich bin bereit, meinen Teil dazu beizutragen.“
Genauso hatte es Nagelsmann angewiesen: „Ein Spieler, der eine Herausfordererrolle hat, muss bereit sein, die Rolle anzunehmen. Das ist die Grundvoraussetzung. Und wenn er es nicht macht, kann er so gut sein, wie er will, er wird niemals einen Impact aufs Spiel haben.“ Der Bundestrainer macht sich nichts vor: „Die sind natürlich gefrustet, wenn sie nicht spielen, aber wenn sie reinkommen, geben sie Gas.“ Das sei auch dringend notwendig: „Bei einem Turnier ist es ganz oft so, dass Spiele erst in den letzten 30 Minuten entschieden werden. Da sind oft sehr viele Spieler, die von der Bank kommen, schon drin und können eine entscheidende Rolle spielen. Die können einen Haken machen an ihren Job, den haben sie dann erfüllt, wenn sie Spiele mitentscheiden.“
Prominentestes Beispiel ist Niclas Füllkrug, der seine Rolle als Joker voll angenommen hat und dazu ohne Ball am Fuß mit seiner einnehmenden Ausstrahlung positiv nach außen wirkt. Ähnlich wie Altmeister Thomas Müller, der seinen Job abseits des Platzes nahe der Perfektion erfüllt, aber nicht vergisst, darauf hinzuweisen: „Wir befinden uns intern immer noch in einem sportlichen Wettbewerb, in Positionskämpfen.“