Schulverweigerer in Neukölln: „Mein Kind ist eineinhalb Jahre nicht in die Schule gegangen“
Connor sitzt am Schreibtisch. Der 13-Jährige aus Berlin-Neukölln möchte nur von hinten fotografiert werden. Seine Mutter, Anke Pohl, hilft ihm beim Lernen.
Connor sitzt an seinem Schreibtisch und lernt für eine Klassenarbeit in Naturwissenschaften. Inzwischen besucht er die sechste Klasse der Berliner Schule am Sandsteinweg regelmäßig – doch das war nicht immer so. Der 13-Jährige aus Neukölln hat rund eineinhalb Jahre verweigert, in die Schule zu gehen. Aufgrund einer seelischen Beeinträchtigung hat Connor einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Es fällt ihm schwer, innerhalb gewisser Strukturen zurechtzukommen. Als Schulverweigerer ist er kein Einzelfall in Berlin.
„Die sozialen Ängste unseres Sohnes belasten unsere ganze Familie“, sagt seine Mutter Anke Pohl. Die Familie ist wegen seiner vielen Fehlzeiten beim Jugendamt Neukölln und der Senatsverwaltung für Bildung bereits aktenkundig. Der Familie wurde sogar schon in mehreren Behördenschreiben ein Bußgeld bis zu 2500 Euro angedroht, außerdem „stand im Raum, ob Connor in der Familie verbleiben kann“, sagt die Mutter.
In den vergangenen vier Jahren ist der Teenager regelmäßig in die Schule gegangen – doch mit dem anstehenden Wechsel auf die Oberschule befürchtet seine Mutter, dass sich das nach den Sommerferien wieder ändern könnte. Aufgrund seiner Konstitution habe ihr Sohn größere Ängste vor Neuanfängen als andere Kinder.
Das Gespräch mit der Berliner Zeitung sucht die besorgte Mutter mit dem Einverständnis ihres Sohnes, um für Kinder und Jugendliche mit einem ähnlichen Schicksal zu sensibilisieren. „Ich möchte mit Connors Werdegang auch aufzeigen, wie sehr es auf die individuelle Förderung solcher Kinder ankommt“, betont sie.
„Die meisten seiner Klassenkameraden werden auf eine andere Schule gehen als er. Das bereitet ihm große Bauchschmerzen“, erklärt die 44-Jährige. Connor hatte als ersten Wunsch die Carl-Zeiss-Oberschule in Lichtenrade angegeben, doch einen Platz bekam er – trotz Härtefallantrag der Eltern – auf der dritten Wunschschule. Rechtlich gesehen gibt es am Vergabeverfahren der Schulbehörde nichts zu beanstanden, denn nur zehn Prozent der Plätze an Sekundarschulen werden zunächst für Härtefälle vergeben, bis zu vier Plätze werden für Kinder mit Förderbedarf reserviert.
Connor hat trotzdem mit der Ablehnung schwer zu kämpfen – das könnte zu neuen Problemen führen, das befürchtet auch sein behandelnder Arzt. Connor weise erhebliche Ängste in unbekannten Situationen auf und komme mit Veränderungen überhaupt nicht klar – so steht es in einer fachärztlichen Stellungnahme seines behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaters.
„Seine Anpassungs- und Adaptionsschwierigkeiten begleiten ihn seit seiner Einschulung. Er soll zur Ruhe kommen und soll möglichst mit einem Klassenverband auf der Folgeschule beschult werden, da sonst eine sichere schulische Integration aus fachärztlicher Sicht als sehr gefährdet erachtet wird“, erklärt er weiter.
Anke Pohl versucht, ihrem Sohn zu helfen, einen Platz im Schulsystem zu finden.
Connor wechselte zuvor bereits dreimal die Grundschule, probierte es an einer Privatschule – doch auch dieser Versuch scheiterte. An seiner jetzigen Schule sei er nun endlich angekommen und glücklich. Die Klassenlehrerin und auch die Schulleiterin hätten sich sehr für ihn eingesetzt und ihren Sohn so akzeptiert, wie er ist, erklärt Anke Pohl.
Davor habe es an jeder Schule Probleme gegeben, auch an der nicht staatlichen habe er als schwer beschulbar gegolten, berichtet Pohl. „Er war unruhig und unkonzentriert, wollte die Regeln nicht befolgen und hat sich aggressiv gegenüber Lehrern und Mitschülern gezeigt.“
„Connor weigerte sich daraufhin, die Schule zu besuchen“, erzählt seine Mutter. Sie vermutet, ihr Kind sei mit dem Schulsystem komplett überfordert gewesen und habe sich auch nicht gesehen gefühlt. Die ganze Familie habe unter seinen Problemen gelitten. Connor hat zwei 23- und 16-jährige Brüder sowie vierjährige Zwillingsgeschwister. Die beiden Kleinsten spielen während des Gesprächs mit ihrem Vater im Garten des Reihenhauses.
Wegen seiner psychischen Probleme musste sich Connor einer psychiatrischen Behandlung unterziehen und an einem zweijährigen Schülerersatzprojekt teilnehmen, bevor er wieder an eine Regelschule zurückdurfte.
„Wir haben alles gemacht, um unserem Sohn zu helfen, aber waren selbst machtlos. Er hat total blockiert“, erzählt die gelernte Krankenschwester, die als Einzelfallbetreuerin beim sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf arbeitet. Sie hat ihren Sohn über Monate zu Hause selbst unterrichtet und auch eine Lernwerkstatt mit ihm besucht.
Aus vorliegenden Unterlagen geht außerdem hervor, dass das Jugendamt damit drohte, Connor aus der Familie zu nehmen, sollten die behördlichen Auflagen nicht erfüllt werden.
Diesen Spruch haben Connors Eltern ihm zu seinem 13. Geburtstag geschenkt, um ihn zu motivieren, seinen Weg zu gehen.
Laut seiner Mutter hat sich die Situation verbessert, seit Connor auf die Schule am Sandsteinweg geht. „Das Tragische ist, dass die Probleme nun wieder von vorn beginnen.“ Auch Connor sorgt sich um seine Zukunft. „Ich habe Angst, nach den Sommerferien auf die neue Schule zu gehen, weil meine Freunde auf die andere Schule wechseln. Ich möchte dort nicht hin“, sagt er und entzieht sich dem Gespräch.
Connor ist als Schulverweigerer kein Einzelfall. Daniela von Hoerschelmann, Lehrerin, ehemalige stellvertretende Vorsitzende des Landeselternausschusses Berlin und Vorsitzende des Bezirksschulbeirats Neukölln, berät Eltern insbesondere von Schulverweigerern. „Als Erstes muss die Ursache herausgefunden werden, warum das Kind nicht in die Schule will, und danach muss der Grund bearbeitet und eliminiert werden.“ In den meisten Fällen stecke hinter einer Schuldistanz eine Über- oder Unterforderung. Auch wenn das Kind zu alt oder zu jung für die Klasse ist, kann das ausschlaggebend sein. „Aus diesen Faktoren ergeben sich häufig Mobbing-Fälle“, erklärt die Expertin.
Kinder und auch Eltern bräuchten in diesen Fällen eine dauerhafte psychologische Betreuung, denn die Schullaufbahn werde nicht einfach sein. Es gebe für Schulverweigerer kein Patentrezept, da das Problem sehr facettenreich sei und jedes Kind anders. „Manche Kinder sind auch einfach nicht regelkonformfähig mit ihrem Verhalten – und auch das muss man akzeptieren“, so von Hoerschelmann.
Die Fehlquote an den weiterführenden Schulen ist allerdings gerade ein wenig gesunken: „Im Vergleich zur letzten Erhebung der Jahrgangsstufen 7 bis 10 für das 1. Schulhalbjahr 2023/2024 ist die Fehlquote insgesamt im 1. Schulhalbjahr 2023/2024 von 9,5 Prozent auf 8,8 Prozent wieder leicht zurückgegangen“, teilt Martin Klesmann, Sprecher der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, mit. Die Quote der unentschuldigten Fehltage ist dabei von 1,7 auf 1,9 Prozent gestiegen.
Der Anteil der Schüler mit über 20 unentschuldigten Fehltagen pro Schulhalbjahr hat sich von 1,7 auf 1,8 Prozent erhöht. Im berlinweiten Vergleich gibt es in Steglitz-Zehlendorf die wenigsten Schüler mit mehr als 20 unentschuldigten Fehltagen (0,7 Prozent), in Spandau mit 2,7 Prozent die meisten.
„Es ist entscheidend für ihn, dass er mit seinen Freunden zusammen die weiterführende Schule besuchen wird, weil sie ihn unterstützen“, ist sich Connors Mutter sicher. Andernfalls könne es passieren, dass er sich erneut weigert, zur Schule zu gehen. „Mama, bitte kämpfe für mich, hat er zu mir gesagt“, erinnert sie sich. Doch an den Regeln der Schulplatzvergabe kann sie nichts ändern. Sie hofft, dass die Entscheidungsträger den Härtefall ihres Sohnes vielleicht doch noch mal genauer anschauen und ihr Kind mit seinen Bedürfnissen unterstützen. Seine jetzige Schulleiterin wolle sich nun auch noch einmal für ihn einsetzen.
Die Schule, auf die Connors Freunde gehen werden – und auf die auch er gehen möchte, ist in Berlin sehr beliebt und auch für ihr Inklusionsprojekt bekannt. „Das gesamte Kollegium der Carl-Zeiss-Schule hat sich die Umsetzung und das Gelingen der Inklusion zur Aufgabe gemacht. (Präambel des Inklusionskonzepts). Die Carl-Zeiss-Schule ist aufgrund langjähriger Erfahrung und guter räumlicher Gegebenheiten eine Inklusive Schwerpunktschule für den Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung“, steht auf der Website unter anderem geschrieben.
„Wir haben alles getan und uns an sämtliche behördlichen Auflagen gehalten. Wir sind sehr betroffen, dass er nun schon wieder so unglücklich ist, und wünschen uns, dass Kinder mit Förderbedarf wie Connor in unserer Gesellschaft individueller gefördert werden“, sagt seine Mutter.