Ein Tag im Leben: Dierk Wolters' Familienroman

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Ein Tag im Leben: Dierk Wolters’ Familienroman

Die Frau, die sich zu Abdul ins Taxi setzt, hat genug von ihrem Job als ­Sekretärin eines Dichtungsringfabrikanten, der seit Kurzem ihr Liebhaber ist und doch schon auf Distanz zu ihr geht, ganz so, als sei ihm die Affäre eine Last.

„Zum Flughafen“, dirigiert sie also das Taxi, aber als Abdul von seiner Familie erzählt, laufen ihr plötzlich die Tränen übers Gesicht. Der darüber verstörte Fahrer baut beinahe einen Unfall, erst ihr Schrei bringt ihn zur Besinnung. Sie bittet ihn, sie wieder zurückzufahren, nach Hause. Und die Nachrichten des Liebhabers, der auf einmal mit ihr ­reden und alles klären will, erreichen eine Frau, die sich nun von ihm nichts mehr erklären lassen will.

Vom Abschnitt „Hartmut, 5:52“ bis zu „Edmund, 20:06“ reicht die Spanne dieses zweihundertseitigen Romans, dessen kurze Teile jeweils nach einem Protagonisten und einer Uhrzeit benannt sind – Hartmut ist der verwitwete Familienpa­triarch, der in einem Pflegeheim vor sich hin dämmert, Edmund ist sein überforderter Sohn und Nachfolger, außerdem haben Edmunds Frau Anne und die beiden Kinder Florian und Amelie ihre Auftritte sowie Edmunds Sekretärin Eva. Die Abschnitte geben jeweils innere Monologe der Figuren wieder, die Gedanken vermischen sich mit Gesprächsfetzen, sodass nicht immer klar ist, was bloß gedacht und was hörbar ausgesprochen wird.

Mit dieser Anlage geht Dierk Wolters, im Hauptberuf Kulturjournalist, ein hohes Risiko ein, schon weil es einige Kunstfertigkeit erfordert, jeder Figur eine glaubhafte innere und äußere Stimme zu verleihen. Eine zweite Herausforderung besteht darin, dass im Abbild von noch nicht einmal 24 Stunden eine erweiterte Familie vorgestellt werden soll, mit dem, was die einzelnen Mitglieder voneinander wegtreibt, und auch dem, was sie verbindet.

Allen aufbrechenden zentrifugalen Tendenzen zum Trotz

Der Tag der Romanhandlung ist, wie sich schon zu Beginn ahnen lässt, nicht zufällig gewählt, und wenn der Pfleger, der morgens zu Hartmut ins Zimmer tritt, den Greis wie stets auch dieses Mal mit penetrant munterer Betonung auffordert, den Tag zu „begrüßen“, dann kann er nicht ahnen, dass der seine Ta­bletten hortende Hartmut schon längst beschlossen hat, dass dieser Dienstag „der große Tag“ sein soll – wenigstens für ihn selbst. Dass sein Tun Folgen für die anderen haben wird, scheint ihn nicht zu interessieren.

Was wissen wir voneinander, besonders wenn wir uns so nahestehen, dass wir täglich miteinander zu tun haben? Das ist die Frage, die hinter der literarischen Form steht, die Wolters seinem Roman zugrunde legt. Sechs Personen stellen ihre Perspektive aus, ohne dass diese aneinander angeglichen würden, und der kluge Autor verzichtet darauf, besonders groteske Eindrücke seiner Protagonisten abzumildern – Evas Wahrnehmung ihres Taxifahrers etwa ist geprägt von Stereotypen, die zu hinterfragen dem Leser überlassen bleibt. Die Figuren machen den Roman hindurch Entwicklungen durch, manchmal – wie Edmunds und Annas Sohn Florian – etwas zu rasch, was allerdings den in einen Tag fokussierten Ereignissen geschuldet sein mag. Und sie nehmen die verfließende Zeit höchst unterschiedlich wahr: Wo von der Warte von Hartmuts Krankenbett aus die Minuten zäh vor sich hin tropfen, erlebt der baldige Abiturient Florian ein ­jähes Wechselbad in seiner Verliebtheit zur schönen Vanessa, die eine Modelkarriere anstrebt und zu ihrem Verehrer ganz ernsthaft über die damit verbundenen Opfer spricht, bevor der junge Mann die inneren Werte seiner Mitschülerin Alexandra zu schätzen lernt. Zwischen diesen Wahrnehmungen vermitteln die unbestechlichen Zeitangaben der Abschnittsüberschriften.

Sie ist die eigentliche Heldin dieses Romans, die verfließende Zeit eines Tages, die in Protokollen gebannt wird, deren Unzuverlässigkeit der Autor mit leichter Hand betont, aber auch die mehrerer Generationen, die keinen Zugang finden, um ein gemeinsames Bild der Gegenwart zu entwerfen. Was Edmund bedrückt, die Globalisierung seines Marktsegments, kümmert seinen dahindriftenden Vater nicht mehr, und Florians Generation wird sich ihren eigenen Herausforderungen stellen.

Eine davon, man ahnt es, wird sein, die auseinanderdriftenden Teile der Familie in ihren Eigenheiten anzuerkennen und das Gemeinsame zu suchen. Ansätze dazu gibt es in „Dienstag“ durchaus, allen aufbrechenden zentrifugalen Tendenzen zum Trotz. Darin besteht das Tröst­liche dieses überzeugend komponierten Romans.

Dierk Wolters: „Dienstag“. Roman. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt am Main 2023. 200 S., geb., 20,– €.

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