Xi Jinping: Aufwachen, Europa!
Die EU darf sich von der Charmeoffensive von Chinas Staatschef Xi Jinping nicht täuschen lassen. Europa braucht eine koordinierte Industriepolitik mit ehrgeizigen Zielen.
Chinas Präsident Xi Jinping auf dem Weg zu seinem Treffen mit Emmanuel Macron in Paris
Chinas Präsident Xi Jinping beherrscht die Diplomatie der Puderzuckerrhetorik. Beim Pressestatement im Pariser Élysée-Palast am Montagabend versuchte er, Gastgeber Emmanuel Macron nach allen Regeln der Kunst zu umgarnen. “China wird seine Märkte weiter öffnen”, versprach Xi. Er kündigte gemeinsame Investitionen in Luftfahrt, Weltraum, Biomedizin und künstliche Intelligenz an. Eine Charmeoffensive, die Präsident Macron mit einem Schuss Skepsis zur Kenntnis nahm. “Die EU hat den offensten Markt auf der ganzen Welt. Aber wir sind in der Lage, unsere Interessen zu schützen”, entgegnete der Franzose. Vor dem bilateralen Gespräch Macron – Xi war es beim Dreiertreffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits hoch hergegangen.
Man sollte sich von Xis Rede vom Freihandel nicht täuschen lassen. Hinter seiner verbindlichen Miene steckt etwas völlig anderes: Der Gast aus Peking versteht sich in erster Linie als knallharter Anwalt nationaler Interessen. Es ist eine doppelte Agenda aus Schein und Sein.
Xis Politik hat eine einzige Zielrichtung: alte Absatzmärkte wie Europa erhalten und neue erschließen. Die Volksrepublik hat gewaltige Überkapazitäten aufgetürmt. Seit der Coronapandemie stottert der Konjunkturmotor, die zweistelligen Wachstumsraten früherer Tage sind passé. China überschwemmt daher die Weltmärkte mit hoch subventionierten Elektroautos, Solarmodulen, Windturbinen oder Produkten zur Telekommunikationsausrüstung. Chinesische Firmen vermasseln den Konkurrenten mit Dumpingpreisen die Margen und drängen viele in den Bankrott.
Lange Zeit hat die EU Chinas staatlich gedopte Exportoffensive toleriert oder ist bestenfalls halbherzig dagegen vorgegangen. Die Gemeinschaft muss sich Naivität, Zögerlichkeit und Handlungsschwäche vorwerfen lassen. Das scheint sich nun angesichts der überwältigenden Marktmacht chinesischer Elektroautos in Europa zu ändern. Nach dem Treffen am Montag in Paris drohte von der Leyen Gegenmaßnahmen gegen “marktverzerrende Praktiken” an. Die Tonalität war scharf wie selten. Noch “vor der Sommerpause” könnte die EU-Kommission bereits Strafzölle oder Einfuhrquoten verhängen, heißt es in Brüssel.
Für einige kommt die härtere Gangart der EU zu spät
Die härtere Gangart der EU ist richtig. Aber sie kommt spät – für einige europäische Hersteller möglicherweise zu spät. Treibende Kraft des Kurswechsels ist Macron. Dieser hatte auch Bundeskanzler Olaf Scholz nach Paris eingeladen, doch der sagte ab.
Eine kurzsichtige Entscheidung. Politik ist auch Choreografie. Symbole und Bilder sind wichtig. Ein gemeinsamer Auftritt von Macron, Scholz und von der Leyen hätte Europas Einigkeit gegenüber Xi demonstriert. Der Kanzler hält leider an der Umarmungsstrategie (“Wandel durch Handel”) seiner Vorgängerin Angela Merkel fest. Doch mit Nettigkeiten und Aufrufen zur gegenseitigen Marktliberalisierung kommt man in der Volksrepublik nicht weit. Das musste auch Scholz bei seiner Begegnung mit Xi Mitte April in Peking erfahren. Bereits vor seiner Reise hatte er sein Nein zu EU-Sanktionen gegen chinesische Elektroautos angekündigt. Bekommen hat er für diese Zusage nichts.
Das Kalkül des Kanzlers scheint klar: Er will verhindern, dass deutsche Konzerne mit noch starkem China-Geschäft wie Volkswagen, Daimler oder BASF Opfer einer Revanchekeule aus Fernost werden. Ob Scholz mit dieser Linie die Gewinne der heimischen Betriebe auf lange Sicht retten kann, ist mehr als zweifelhaft. Peking wird alles daransetzen, die Technologieführerschaft zu erlangen und westliches Know-how abzusaugen.
Nur auf Härte, Druck und Geschlossenheit wird China reagieren
Die EU muss endlich aufwachen! Es gibt Präzedenzfälle, die illustrieren, mit welch harten Bandagen die Volksrepublik spielt. So wurde Europa vor über zehn Jahren mit subventionierten Solarmodulen überflutet. Viele Unternehmen konnten bei den Billigpreisen nicht mithalten und machten dicht. Als die Brüsseler Kommission Importzölle auflegen wollte, baute Peking Drohkulissen auf und spielte die EU-Länder gegeneinander aus. Ergebnis: Ein Großteil der europäischen Solarwirtschaft blieb auf der Strecke.
China reagiert nur auf Härte, Druck und Geschlossenheit. Nur ein handelspolitisches Tit for Tat eröffnet die Möglichkeit, dass Xi am Ende einlenkt. Die Formel lautet Reziprozität (Gegenseitigkeit). “Entweder beide Märkte sind offen oder beide Märkte sind nicht offen”, sagt EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis klipp und klar. Doch diese Erkenntnis muss nun auch mit Taten untermauert werden. Die Chancen hierfür sind durchaus da. Die US-Regierung schneidet chinesische Firmen zunehmend von Technologielieferungen ab. Das Reich der Mitte ist auf Investitionen europäischer Unternehmen und offene Märkte angewiesen.
Dass China lupenreine Machtpolitik betreibt, lässt sich auch an Xis weiterer Reiseroute durch Europa ablesen. Nicht ohne Grund besucht er das EU-Mitglied Ungarn und den EU-Beitrittskandidaten Serbien. Beide Länder gelten als china- und russlandfreundlich. So soll während der Xi-Visite in Ungarn die Eröffnung eines Werks für Elektrofahrzeuge des chinesischen Herstellers Great Wall Motors ankündigt werden. Just zu der Zeit, in der die EU eine Antisubventionsuntersuchung gegen chinesische E-Autos durchführt. Xi will Europa auseinanderdividieren. Er baut auf Spaltpilzpolitik.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg ist ebenfalls Vorsicht geboten. Der Kanzler hatte bei seinem jüngsten Peking-Besuch die Erwartung, dass Xi mäßigend auf Kremlchef Wladimir Putin einwirken könne – sie entpuppte sich als Illusion. Macron und von der Leyen machten beim Dreiergespräch in Paris einen ähnlichen Versuch. Vergeblich. Xi bügelte die Vorstöße elegant ab: “China hat nichts mit dem Ursprung dieser Krise zu tun, und es ist auch keine Partei.” Der Traum vom ehrlichen Makler ist reines Wunschdenken, denn der chinesische Staatschef verfolgt auch hier eine doppelte Agenda. Der von der Regierung in Peking vorgelegte Zwölf-Punkte-Plan zur Ukraine ist ein Sammelsurium wolkiger Prinzipien, die beliebig interpretiert werden können.
Für China ist Russlands Krieg gegen die Ukraine gut
De facto hat Peking die russische Invasion in die Ukraine nie verurteilt und spricht vielmehr von einer “felsenfesten Beziehung” zu Moskau. Tatsache ist: Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich der wirtschaftliche Austausch und die strategische Partnerschaft zwischen beiden Ländern vertieft. Die Volksrepublik bezieht vor allem billiges Öl aus Russland. Als Gegengeschäft verschickt China Dual-Use-Güter, die sowohl zivil wie militärisch genutzt werden können.
China hat ein Interesse daran, dass der Westen seine Energien durch die Unterstützung der Ukraine erschöpft. Sollte Putin mit seinem Angriffskrieg durchkommen, sähe Peking darin eine Blaupause für eine “friedliche Wiedervereinigung” mit dem demokratischen Inselstaat Taiwan. Europa muss den Realitäten illusionslos ins Auge schauen. Eine neue China-Politik sollte jedoch nicht per Megafondiplomatie auf den öffentlichen Marktplätzen betrieben werden – das wäre kontraproduktiv und würde das Klima unnötig aufheizen. Es bringt mehr, gemeinschaftlich aufzutreten und hinter verschlossenen Türen hart zu verhandeln.
Bei aller Kritik muss man Xi eines zugutehalten: Er hat es geschafft, dass Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut in die Mittelklasse aufgestiegen sind. Dahinter steckt eine ambitionierte Strategie, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Nach dem 2015 aufgelegten Plan “Made in China 2025” soll der inländische Anteil von Kernmaterialien bis zum kommenden Jahr deutlich hochgefahren werden.
Europa braucht eine koordinierte Industriepolitik
Die Volksrepublik konzentriert sich dabei auf die gezielte Förderung von zehn Schlüsselbranchen, in denen die Weltmarktführerschaft angestrebt wird. Diese umfassen Energieeinsparung und Elektromobilität, Informations- und Kommunikationstechnologien, Werkzeugmaschinensysteme und Robotertechnologie sowie Anlagen für Luft- und Raumfahrttechnik oder Medizingeräte. Bis 2049, dem 100. Geburtstag der Volksrepublik, will China die führende Industrienation sein.
Es nützt allerdings nichts, in Larmoyanz zu verfallen. Zwar ist das in Brüssel und Berlin angestrebte Ziel, die hohe wirtschaftliche Abhängigkeit von China zu vermindern (“de-risking”), richtig. Doch nur als Zwischenschritt. Es bedarf einer europäisch koordinierten Industriepolitik. Eines Plans, der auf viele Jahre angelegt ist und Spitzenpositionen auf dem Weltmarkt anpeilt. Warum nicht ein neues Leitbild für Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und industrielle Stärke entwerfen? Dazu gehören natürlich auch politische Rahmenbedingungen wie Steuern und Energiepreise, in denen Unternehmen florieren. Nach dem Modell Airbus könnte zum Beispiel auch ein Telekommunikationskonzern “made in Europe” aufgebaut werden – als Konkurrenz zu Chinas IT-Giganten Huawei.
Europa steht an einer Weggabelung. Entweder die Gemeinschaft rauft sich in einem Kraftakt zusammen. Oder sie ist auf lange Sicht nur noch Zaungast der weltwirtschaftlichen Dynamik. Im schlimmsten Fall bliebe der rostige Charme eines Industriemuseums übrig: schön anzuschauen, aber kein Garant für Wohlstand. Noch ist es nicht zu spät.