Wo die evangelische Kirche stark ist – noch
Die mehr als 5000 evangelischen Posaunenchöre sind nicht nur ein musikalisches Aushängeschild des deutschen Protestantismus. Sie bilden auch ein personelles Rückgrat der Kirche. Doch das Großtreffen der Blechbläser in Hamburg wirft die Frage auf, was aus dem Niedergang der Religiosität folgen soll.
Serenade am Hamburger Hafen dpa
Erst kam die Nachricht vom Niedergang. Direkt danach bewies der Protestantismus eine seiner Stärken. Erst, am Donnerstag vergangener Woche, teilte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit, dass sie 2023 fast 600.000 Mitglieder durch Austritte und den Überhang von Sterbefällen gegenüber Taufen und Eintritten verloren hatte. Und dann kamen am Freitag in Hamburg nicht weniger als 15.000 Blechbläser der Kirche zusammen.
Die machten beim Eröffnungsgottesdienst des dritten Deutschen Evangelischen Posaunentags auf der Moorweide am Dammtor-Bahnhof sofort klar, warum dieses spezifisch evangelische Musizieren zum immateriellen Unesco-Kulturerbe gehört. Als Hunderte Tuba-Bläser die Melodie von „Schmückt das Fest mit Maien“ übernahmen, tauchten sie den Choral in ein ergreifend ahnungsvolles Dunkel. Das für die dreitägige Veranstaltung komponierte Stück „Segel setzen“ klang mit hymnischen Fanfaren wie Musik zu einem großen Film. Die 125 Platzkonzerte am Samstag ließen unter anderem durch Altona Klänge wie sonst nur zu Weihnachten ziehen.
So klingt Protestantismus
Indes machte das bis Sonntag währende Treffen nicht nur deutlich, dass diese Musik neben den Kantaten und Orgelwerken der Alten Meister die zweite große Klangleistung des Protestantismus ist. Es zeigte auch, dass diese Basisbewegung in deutschlandweit rund 5300 Posaunenchören vorerst für personelle Stabilität sorgt. Er kenne kaum einen Fall, in dem jemand das gemeinsame Musizieren mit Posaune oder Horn, Tuba oder Trompete ohne Not wieder aufgegeben hätte, erzählte Heiko Hobohm, der in einem Berliner Posaunenchor spielt. „Wer ernsthaft damit angefangen hat, springt nicht wieder ab“, sagte Hobohm, der seit mehr als 30 Jahren dabei ist.
Der Japaner Ikumi Watanabe ist eigens für den Evangelischen Posaunentag von Tokio nach Hamburg gereist Matthias Kamann
Welche Verbundenheit es da gibt, zeigt sich an Ikumi Watanabe. Der Japaner studierte vor einigen Jahren in Berlin und übte, weil das in seiner Wohnung nicht ging, im Tiergarten – wo er von Blechbläsern angesprochen und in deren Posaunenchor eingeladen wurde. An dem hängt er nun so sehr, dass er aus Tokio, wo er heute lebt, eigens zum Treffen nach Hamburg gekommen ist. Auf die Frage, ob das nicht eine sehr aufwendige Anreise gewesen sei, antwortete Watanabe: „Ja.“ Und fügte hinzu: „Das ist eine Familie. Ihr bleibe ich treu.“
Dieses Familiäre, von dem in Hamburg oft erzählt wurde, hat eine tatsächlich biologische Seite: Viele sind durchs Elternhaus an dieses Musizieren gekommen. Etwa Anne Mertens (Horn) und ihre Schwester Lena (Trompete), die als Kinder von ihrem Vater Kai Mertens, der seit rund 50 Jahren spielt, die ersten Instrumente bekamen. Jetzt studieren die jungen Frauen, gehören in den jeweiligen Städten keinem Posaunenchor mehr an, sind aber nach wie vor so spielsicher und begeistert, dass sie zum Hamburger Treffen gekommen sind. „Es macht Spaß“, sagt Anne Mertens. Ihre Schwester Lena verweist darauf, „dass Übung guttut“.
Kai Mertens aus Reinbek mit seinen Töchtern Anne (M.) und Lena (r.) bei Proben im Hamburger Stadtpark Matthias Kamann
Insofern sind Posaunenchöre ein starkes Beispiel für eine Logik, die nach allen Untersuchungen auch bei weniger engagierten Kirchenmitgliedern eine große Rolle spielt: Religiöse Sozialisation als Einübung in Formen der Zugehörigkeit kann ein wohlwollendes Verbundenheitsgefühl schaffen, das auch dann, wenn sich im Laufe des Lebens manches lockert, als Bereitschaft zum Mitmachen bestehen bleibt.
Allerdings ist die religiöse Sozialisation in Deutschland auf dem Rückzug. Deshalb haben auch Posaunenchöre Nachwuchssorgen, geht die Zahl ihrer Mitglieder zurück: 2007 waren es nach EKD-Angaben 98.000, aber 2021 nur noch gut 72.000. „Wir können nicht mehr so sehr wie früher auf die Familien bauen“, sagt die Berliner Posaunistin Stephanie von Ahlefeldt. Sie engagiert sich für die Internet-Plattform flaechengold.de, wo versucht wird, unabhängig von Herkunft und Erziehung alle anzusprechen, deren Herz für gemeinschaftliche Blechblasmusik schlägt. Das aber heißt: Kirchlichkeit in Form des Spielens in Gottesdiensten oder auch Pflegeheimen sowie Kitas bleibt zwar wichtig, doch Offenheit in Fragen des Glaubens muss gewährleistet sein.
Heiko Hobohm und Stephanie von Ahlefeldt Matthias Kamann
Das ist bei Posaunenchören nicht so einfach, weil sie aus besonders frommen Formen des Protestantismus entstanden sind. Sie bildeten sich in pietistischen und volksmissionarischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts, als „Erweckte“ mit lauten Posaunen auf die Straßen gingen. „Ohne die Erweckungsbewegung gäbe es wohl heute keine Posaunenchöre“, sagt die Theologin Julia Koll, die seit Kurzem die Evangelische Akademie Loccum in Niedersachsen leitet. Noch heute lasse sich beobachten, dass es in Gebieten, in denen jene Bewegung stark war – etwa das heutige Baden-Württemberg oder Nordhessen oder Sachsen – mehr Posaunenchöre gibt als anderswo.
„Klang, der Gänsehaut macht“
Doch diese Prägung sei kaum noch wirksam, sagt Koll. Posaunenchöre seien seit vielen Jahrzehnten „in der Mitte der Volkskirche“ angekommen. Die Landeskirchen tun auch einiges dafür: Sie beschäftigen professionelle Landesposaunenwarte, die sich um die Weiterbildung der ehrenamtlichen Chorleiter in den Gemeinden kümmern, sie zahlen für die Bereitstellung von Leih-Instrumenten, damit nicht alle aus eigener Tasche 2000 Euro und mehr für brauchbare Instrumente ausgeben müssen.
Was aber heutzutage die „Religiosität von Bläserinnen und Bläsern“ betreffe, sagt Koll, „so findet man alles darunter, vom Agnostiker über spirituell Experimentierfreudige bis zur Katholikin“. Klar indes sei: „Die meisten Mitglieder fühlen sich der evangelischen Kirche sehr verbunden.“ Glaube im expliziten Sinne lasse sich nicht als inhaltliche Substanz herauslösen, sondern gehöre für die Allermeisten ganz eng zusammen mit „Freude am Musizieren“, mit „Wohlgefühl in der Gemeinschaft“ und damit, etwas für andere zu tun, beim Musizieren „in Gottesdiensten, Konzerten, in Krankenhäusern und bei allen möglichen Anlässen vor Ort.“ Und nicht vergessen werden dürfe „dieser ganz besondere Klang, der einfach Gänsehaut macht“.
Eröffnungsgottesdienst auf der Moorweide dpa
Faktisch ist so ein Posaunentag auch ein Vermeiden von Glaubensexplikationen: Predigten oder politische Botschaften, über die innerhalb wie außerhalb der evangelischen Kirche die Meinungen sehr weit auseinandergehen, haben nicht viel Platz. „Wir lassen klingen, was wir glauben“, sagte im Eröffnungsgottesdienst Gerhard Ulrich, bis zur Pensionierung Landesbischof der Evangelischen Kirche in Norddeutschland und heute Vorsitzender des Evangelischen Posaunendienstes in Deutschland.
Den Glauben klingen zu lassen, erfordert ja auch volle Aufmerksamkeit. Auf der Hamburger Moorweide mussten 15.000 Blechbläser in dem Takt spielen, den auf der Bühne und auf Großleinwänden ein Posaunenwart vorgab. Bei den Proben klappte das zunächst nicht so gut. Manche orientierten sich nicht am Dirigat, sondern an dem, was sie von den nächststehenden Bläsern so zu hören kriegten. Bis ein Posaunenwart alle aufforderte, auf ihn zu schauen: „Blast nie nach Gehör! Blast immer nach Sicht!“