Benjamin Netanyahu verspricht den Israeli auch nach dem Abzug aus dem südlichen Gazastreifen den «vollständigen Sieg» über die Hamas – ist das realistisch?

benjamin netanyahu verspricht den israeli auch nach dem abzug aus dem südlichen gazastreifen den «vollständigen sieg» über die hamas – ist das realistisch?

Will den Krieg bis zum vollständigen Sieg über die Hamas fortführen: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Leo Correa / Pool / Reuters

Wer in den vergangenen Wochen Benjamin Netanyahu zugehört hat, dem blieben vor allem zwei Worte in Erinnerung: «total victory». Die Beschwörung des vollständigen Siegs über die Hamas gehört zum Standardrepertoire des israelischen Ministerpräsidenten. Seit Wochen betont Netanyahu, dieser Sieg sei in greifbarer Nähe – erst dann könne der Krieg gegen die Terrororganisation aus Gaza beendet werden.

Am vergangenen Sonntag ist der Gaza-Krieg in eine neue Phase eingetreten. Auf den Tag genau sechs Monate nach dem Massaker der Hamas zog die israelische Armee ihre Bodentruppen aus dem südlichen Gazastreifen ab. Nur eine Brigade bleibt in der Mitte der Küstenenklave stationiert. Noch am gleichen Tag trat Netanyahu vor die Kameras. Den Abzug erwähnte er nicht, allerdings sprach er wieder vom totalen Sieg über die Hamas, der unmittelbar bevorstehe.

Doch es gibt Gründe, an diesem Versprechen zu zweifeln. Denn ein vollständiger Sieg über die Hamas wird – wenn er überhaupt erreicht wird – voraussichtlich noch Monate oder sogar Jahre brauchen. Es deutet alles darauf hin, dass Netanyahus Siegesmantra vor allem einem Zweck dient: seinem politischen Überleben.

Wie definiert Israel den vollständigen Sieg?

Israel hat drei Ziele für den Krieg gegen die Hamas ausgegeben. Erstens will es die militärischen Fähigkeiten der Hamas zerstören. Zweitens will es sicherstellen, dass die Islamisten künftig nicht mehr den Gazastreifen regieren. Drittens sollen alle Geiseln nach Israel zurückkehren. «Das Problem ist, dass die Situation mit den Geiseln etwas im Widerspruch zu den anderen zwei Zielen steht», sagt Eitan Shamir, der Direktor des Begin-Sadat-Zentrums für strategische Studien in Israel. Sollte sich Israel auf ein Geiselabkommen und eine Feuerpause einlassen, werde es wegen des internationalen Drucks schwierig, danach eine Offensive auf Rafah zu starten. Dort vermutet Israel die letzten intakten Hamas-Bataillone.

Laut Shamir steht die israelische Armee kurz davor, das erste Ziel zu erreichen: Die militärischen Fähigkeiten der Hamas reichten bald schon nicht mehr aus, um Israel zu bedrohen. Ein Sieg sei trotzdem noch in weiter Ferne. «Wenn wir uns die israelische Geschichte anschauen, dann sind das sehr weit reichende Kriegsziele», sagt Shamir. So gut wie alle Kriege Israels mit seinen arabischen Nachbarn wurden gegen Staaten mit regulären Armeen geführt. Der erste Libanonkrieg 1982 ist eine Ausnahme. Damals vertrieben israelische Truppen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aus dem nördlichen Nachbarland.

«Aber selbst 1982 war es nicht das Ziel Israels, die PLO zu zerstören, obwohl sie Israels Erzfeind war – so etwas wie die Hamas der damaligen Zeit», sagt Shamir, zumal die Zerstörung der Hamas weitaus schwieriger sei. Die PLO war eine Gruppe, die von aussen nach Libanon kam und sich dort einnistete. Die Hamas hingegen stammt aus Gaza und regiert den Küstenstreifen seit über 15 Jahren mit harter Hand, interne Rivalen wurden brutal ermordet.

Sollte das zweite Kriegsziel erreicht werden, die Hamas also nicht mehr die politische Macht in Gaza ausüben, würde ein Vakuum herrschen. Die von Israel präferierten Clans von Gaza eignen sich nicht als Ordnungsmacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde Gaza auf absehbare Zeit ein Somalia-Szenario bevorstehen, meint Eitan Shamir: dasjenige eines gescheiterten Staats, den niemand wirklich beherrscht und in dem die israelische Armee nach Belieben operieren kann.

Bleibt das dritte Kriegsziel, die Befreiung der Geiseln. Die letzten sechs Monate Krieg deuten darauf hin, dass dieses Ziel politisch, nicht aber militärisch erreicht werden kann. Über 100 israelische Geiseln wurden während einer Feuerpause im November im Austausch gegen palästinensische Gefangene freigelassen. Insgesamt konnten erst drei israelische Geiseln von Soldaten befreit werden, drei wurden zudem durch israelisches Feuer erschossen, weil sie für Hamas-Kämpfer gehalten wurden. Die Verhandlungen in Kairo um einen weiteren Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen stecken weiterhin fest.

Israel steht ein Vietnam-Szenario bevor

Ein vollständiger Sieg, wie ihn Netanyahu den Israeli verspricht, ist daher nicht greifbar. «Nach dem Abzug aus dem südlichen Gazastreifen ist Israel weit davon entfernt, die politischen und militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören», sagt Michael Milshtein. Der frühere Leiter der Palästinenser-Abteilung im israelischen Militärgeheimdienst glaubt nicht, dass die nun von der israelischen Armee angekündigte Taktik, auf gezielte Razzien zu vertrauen, erfolgreich sein wird.

«Ein Vorgehen wie im Westjordanland wird in Gaza nicht funktionieren», ist er sich sicher. «Israel benötigt sechs bis sieben Divisionen in Gaza, um die Hamas vollständig zu zerstören, und müsste für lange Zeit vor Ort bleiben. Das ist allerdings unwahrscheinlich, da wir dann an anderen Fronten grosse Risiken eingehen würden.»

Mihlshtein ist pessimistisch, was einen israelischen Sieg angeht. Israel befinde sich momentan in einer ähnlichen Situation wie die USA einst in Vietnam. «Die amerikanische Armee konnte grosse militärische Erfolge vorweisen, aber weil die Amerikaner keine langfristige Strategie hatten, erlitten sie eine Niederlage – so wird es in Gaza auch sein.»

Es geht um Netanyahus politisches Überleben

Weshalb hält Netanyahu also am «vollständigen Sieg» fest? Ein fortgesetzter Krieg nütze dem israelischen Ministerpräsidenten, ist sich Mihlshtein sicher. «Ein Waffenstillstand würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Rufe nach politischen Veränderungen in Israel lauter werden lassen», sagt er. Diese persönlichen Erwägungen leiteten Netanyahu und führten dazu, die immergleichen Sieges-Slogans zu wiederholen.

Selbst der konservative Politikwissenschafter Eitan Shamir meint, dass Frieden Netanyahu schaden würde. «Allerdings ist es verfehlt, anzunehmen, dass er den Krieg auf unbestimmte Zeit weiterführen will, um sich in einer semifaschistischen Art an der Macht zu halten. Es ist klar, dass die Hamas Gaza nicht weiter regieren kann – die meisten Israeli stehen hinter diesem Ziel.» In Israel glaubt allerdings kaum jemand, dass dieses Ziel in den nächsten Monaten erreicht werden kann – vielmehr gehen Experten wie Shamir von einem oder sogar zwei Jahren aus, bis die Hamas vollkommen zerstört ist.

Wenngleich die meisten Israeli sich nach der barbarischen Terrorattacke des 7. Oktober die vollständige Zerstörung der Hamas wünschen, glauben sie schon lange nicht mehr den Versprechungen ihres Ministerpräsidenten. Laut einer Umfrage von Ende Februar halten nur 39 Prozent der Israeli einen vollständigen Sieg über die Hamas für wahrscheinlich. Trotzdem wird Netanyahu von diesem Ziel nicht abrücken – der fortgesetzte Krieg sichert sein politisches Überleben.

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