Beschäftigte in Deutschland haben real immer noch weniger in der Tasche als vor der Coronakrise. Ein kräftiger Produktivitätsschub würde helfen. Leider sind wir davon weit entfernt.
Inflation und die Folgen: Unsere quälende Lohnlücke
Gute Nachrichten sind rar in diesen Zeiten, doch in der abgelaufenen Woche warteten die amtlichen Statistiker mit Zahlen auf, die eine gewisse Entspannung versprachen. Jedenfalls dem ersten Anschein nach.
2023 stiegen die Löhne etwas schneller als die Preise: Die Kaufkraft der Beschäftigten lag Ende des Jahres um 0,1 Prozent höher als Ende 2022. Immerhin.
Man kann diese Zahlen als Aufbruchssignal lesen. Nach dem Motto: Die schlimme Phase des Inflationsschubs der vergangenen Jahre ist vorbei. Die Kaufkrafteinbußen sind endlich gestoppt. Wir sind auf dem Weg zurück zur Normalität.
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Das stimmt, aber es greift doch zu kurz. Denn der Weg zurück zur Normalität ist noch lang.
0,1 Prozent – von was?
Im vorigen Jahr ist es Gewerkschaften und Beschäftigten gelungen, reale Einkommensverluste abzufangen, die durch die Preissteigerungen verursacht wurden, auch mit teils rabiaten Streiks. Dass wiederum die Inflation abgeflaut ist, liegt nicht zuletzt am Kurs der Europäischen Zentralbank (EZB), die nach anfänglich langem Zögern schließlich die Zinsen entschlossen anhob und nun auf recht hohem Niveau hält. (Achten Sie Donnerstag auf die Entscheidungen des EZB-Rats.) Zusammen sorgten kräftige Lohnerhöhungen und abflauende Inflationsraten für das Mini-Plus bei den Reallöhnen.
Auch die Bundesregierung half mit: Steuerbefreite Sonderzahlungen („Inflationsausgleichsprämie“) und ein gesetzlich um 15 Prozent angehobener Mindestlohn sorgten dafür, dass Leute mit niedrigeren Einkommen relativ höhere Zuschläge bekamen. So stiegen die Löhne im unteren Fünftel der Einkommensskala zuletzt mehr als doppelt so schnell wie im oberen Fünftel. Die Verteilung der Arbeitseinkommen wurde also ein bisschen gleichmäßiger. So weit, so gut.
Allerdings ist der Vergleich zum Vorjahr irreführend. Denn 2022 schrumpfte die Kaufkraft der Beschäftigten heftig. Wegen überraschend hoher Inflation und lang laufenden Tarifverträgen sanken die Löhne real (nach Abzug der Inflationsrate) – im Schnitt um 4 Prozent.
Dieses Minus addiert sich zu den Einkommensverlusten infolge der Coronapandemie, als viele Beschäftigte bei herabgesetzten Bezügen in Kurzarbeit waren. Bereits 2020 sanken deshalb die Löhne real um 1,2 Prozent. 2021 lag das Reallohnplus bei null.
Das Resultat ist eine gewaltige Lohnlücke. Unter dem Strich liegen die Reallöhne immer noch um rund 5 Prozent unter dem Stand des Vorkrisenjahres 2019. Es folgte Schock auf Schock: Corona, globale Lieferengpässe, Russlands Angriff auf die Ukraine und die explosionsartig steigenden Rohstoffpreise, die sich verselbständigende Preisdynamik in weiten Teilen der Weltwirtschaft – die Folgen dieser Krisen sind längst nicht ausgestanden. Und die Bürger spüren es an ihren knapperen Budgets.
Die grassierende Unzufriedenheit mit Politik und Gesellschaft und der messbare allgemeine Glaubwürdigkeitsverlust der Institutionen hat hier eine Ursache: Wenn das staatlich abgesicherte Geldsystem keine Wertstabilität mehr gewährleistet, wird das Vertrauen ins Gesamtsystem brüchig.
Inflation spielt Populisten und ausländischen Propagandisten in die Hände, was wiederum die westlichen Demokratien im Innern schwächt. Auch deshalb wäre ein baldiges Aufholen der inflationsbedingten Einbußen höchst wünschenswert. Doch das wird nicht so einfach.
Die graue neue Normalität
Der Rückgang der Reallöhne mag fürs Erste gestoppt sein. Doch jetzt kommt der schwierigere Teil der Wegstrecke: der Wiederaufstieg.
Nehmen wir an, wir würden zurückkehren zur Normalität des vorigen Jahrzehnts. In den 2010er-Jahren stiegen die Reallöhne im Schnitt um 1,6 Prozent jährlich, wie das gewerkschaftsnahe Forschungsinstitut WSI berechnet hat. Bei diesem Tempo würde es weitere vier Jahre dauern, bis die Reallohnverluste durch Corona und die Inflationskrise ausgeglichen wären. Erst 2027 hätten die Beschäftigten unter diesen Bedingungen wieder die Kaufkraft von 2019 erreicht. Trübe Aussichten.
Leider fürchte ich, dass dies noch eine allzu optimistische Kalkulation ist. Denn der entscheidende Faktor für die Entwicklung der Reallöhne ist die Produktivitätsentwicklung. Und da sieht es derzeit mau aus – zurückhaltend formuliert. Anders als in den 2010er-Jahren befindet sich die Produktionsintensität im Rückwärtsgang.
Von Alarmsignalen und Dauerzuständen
In Deutschland waren 2023 mehr Leute beschäftigt als im Jahr zuvor, doch zugleich ist die Wirtschaftsleistung zurückgegangen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank um 0,3 Prozent. Mehr Leute erwirtschaften weniger. Das heißt: Die Produktivität steigt nicht wie gewohnt, sondern sie sinkt.
Im letzten Quartal des vorigen Jahres ging die Produktivität pro Arbeitsstunde um 0,4 Prozent zurück. Pro Erwerbstätigen gerechnet betrug das Minus sogar 0,9 Prozent, kalkuliert das Statistische Bundesamt.
Ein Alarmsignal, aber kein Dauerzustand. Dass Firmen mehr Leute einstellen, um weniger Dienstleistungen und Güter zu produzieren, ist langfristig nicht tragbar. Entweder ziehen Wertschöpfung und Wirtschaftswachstum wieder an, oder die Unternehmen bauen Personal ab, nämlich wenn sie zu der Überzeugung gelangen, dass die deutsche Volkswirtschaft sich auf einem längerfristigen Schrumpfkurs befindet. Beschäftigte vorzuhalten, für die sie momentan eigentlich keine Aufträge haben, nur weil es schwierig ist, neue Leute zu finden, macht dann keinen Sinn mehr.
Womöglich stehen wir auch unmittelbar vor einer Trendwende: vor einem Produktivitätsschub sondergleichen. Denkbar, dass das Zusammenspiel aus demografisch bedingt engeren Arbeitsmärkten und neuen Technologien, zumal der künstlichen Intelligenz, in den kommenden Jahren für rapide steigende Leistungssteigerungen sorgt. Unter diesen Bedingungen wären auch kräftige Lohnerhöhungen möglich. Aber bislang ist davon in Deutschland wenig zu sehen.
Löhne treiben Service-Inflation
Solange die Produktivität lahmt, führen Lohnerhöhungen ziemlich direkt zu Preiserhöhungen. Deshalb schaut die EZB derzeit intensiv auf die Lohnentwicklung.
Insgesamt sind die Inflationsraten zwar weiter rückläufig. Im Februar lag der Anstieg der deutschen Verbraucherpreise bei 2,5 Prozent gegenüber Vorjahresmonat – und damit immer noch über dem Zielwert von 2 Prozent. Zugleich aber steigen die Preise in Teilen der Wirtschaft deutlich rascher an. Vor allem bei Dienstleistungen schlagen höhere Lohnkosten zu Buche; die Serviceinflation lag zuletzt bei 3,4 Prozent. In der Eurozone insgesamt stiegen die Arbeitskosten auf Jahresbasis zuletzt um 5,3 Prozent – ein Wert, der immer noch höher ist, als mit dem Ziel der Preisstabilität kompatibel wäre. Entsprechend wird sich die EZB schwertun, in absehbarer Zeit die Zinsen zu senken.
Aufbruch? Welcher Aufbruch?
In einer idealen Welt würde das Erschrecken über die Krisen der vergangenen Jahre dazu führen, dass sich unsere europäischen Gesellschaften aufbäumen: mehr investieren, mehr arbeiten, mehr leisten, innovativer und produktiver werden. Dann wären auch kräftige Lohnzuwächse möglich, ohne dass die Inflation anzieht. Die Lohnlücke, die sich seit der Coronapandemie geöffnet hat, würde sich rasch schließen. Weitere ordentliche Lohnzuwächse deutlich oberhalb der Inflationsrate wären möglich.
Bislang ist ein solcher Aufbruch nicht in Sicht. Aber wir sollten nicht aufhören, daran zu arbeiten.
Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche
Montag
Frankfurt – Konjunktursignal – Der Maschinenbauverband VDMA veröffentlicht neue Zahlen zu den Auftragseingängen im Januar.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Henkel, Sixt.
Dienstag
Sacramento, Austin etc. – The Donald im Landeanflug – “Super Tuesday”: In 16 Bundesstaaten finden Vorwahlen statt, darunter in bevölkerungsreichen Staaten wie Kalifornien und Texas. Vermutlich ist danach Donald Trump die Präsidentschaftskandidatur für die Republikaner nicht mehr zu nehmen. Das Unheil nimmt seinen Lauf.
Berlin – Gib mir die Knete – zweite Runde der Tarifverhandlungen im Bauhauptgewerbe.
Wiesbaden – Lahmendes Schwungrad – Das Statistische Bundesamt berichtet von der Entwicklung der deutschen Exporte. Seit einiger Zeit leidet die Ausfuhr unter der zugespitzten geoökonomischen Lage.
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von DHL, Bayer, Schaeffler, Symrise, Traton, Thales, Target, Pirelli, Dassault Aviation.
Donnerstag
Frankfurt – Hold steady! – Ratssitzung der EZB: Unter Führung von Präsidentin Lagarde wird die Zentralbank mutmaßlich entscheiden, die Zinsen konstant zu halten. Achten Sie auf: Hinweise zur Lohnentwicklung, Ankündigungen zur weiteren Schrumpfung des Anleiheportfolios.
Peking – Lahmer Motor – China legt Außenhandelszahlen vor. Angesichts mauer Lage im Land und stattlichen Überkapazitäten fürchte viele im Westen chinesische Billig-Importe – wieder mal.
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Merck, P7S1, Hugo Boss, Grenke, Gea, Grenntag, Costco. Vivendi, Prada, Aviva.
Freitag
Washington – Jobs, Jobs, Jobs – Die US-Regierung veröffentlicht Daten zur Arbeitslosenquote im Februar.
Luxemburg – Talsohle ohne Ende – Eurostat veröffentlicht Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt der Eurozone und der EU insgesamt im vierten Quartal 2023.
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