Wettlauf gegen die Zeit: Russlands Sturm auf Tschassiw Jar
Ein Soldat in der besonders umkämpften Region Donezk zündet Kerzen an: Am Wochenende feierten die Ukrainer bereits ihr drittes orthodoxes Ostern im Krieg.
In den nächsten Wochen und Monaten erreicht ein Grossteil der amerikanischen Waffenlieferungen die Front in der Ukraine. Die russische Armee weiss, dass ihr nicht viel Zeit bleibt.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Die russische Armee versucht in der Ukraine mit allen Mitteln, so viel Territorium wie möglich zu erobern – bevor die amerikanische Militärhilfe die ukrainischen Verteidiger erreicht.
Erste Lieferungen sind zwar bereits eingetroffen, doch es könnte Wochen oder gar Monate dauern, bis die Waffenlieferungen in ausreichender Zahl bei den ukrainischen Truppen ankommen, wie der britische Independent schreibt.
Pavel Luzin vom US-Thinktank Jamestown Foundation, sagt gegenüber dem Independent:
«[Die Russen] beeilen sich. Sie versuchen, ihre Kampfpositionen um jeden Preis zu verbessern, um die Ukraine zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu zwingen.»
Das bedeutet, dass die russische Armee ihre Kampfhandlungen massiv intensiviert. Was sie an Material und Soldaten haben, werfen sie an die Front.
Donbass im Fokus
Der Fokus der russischen Offensive liegt auf der ukrainischen Region Donezk, die Russland annektiert, aber noch nicht ganz unter Kontrolle hat. Im Februar eroberten die russischen Truppen Awdijiwka, kürzlich konnten sie auch Otscheretyne einnehmen.
Ein nächstes Ziel Russlands ist die Stadt Tschassiw Jar. Sie liegt in der Nähe von Bachmut, das Russland vor einem Jahr nach monatelangen Kämpfen unter grossen Verlusten erobern konnte. Tschassiw Jar ist strategisch wichtig, wie Michael Clarke, Gastprofessor für Kriegsstudien am King’s College in London, gegenüber dem «Independent» sagt.
Tschassiw Jar liegt etwa 5 km von Bachmut (unten rechts).
Von dort hätten die Russen Zugang in Richtung Norden – so könnten sie die Stadt Kramatorsk angreifen, oder weiter westlich in der Nähe von Dnipro, der viertgrössten Stadt der Ukraine.
Doch das ist nicht alles, wie Clarke ausführt:
«Es ist auch die natürliche Verteidigungslinie vor Kostjantyniwka im Südwesten, einer der grossen Städte im Donbass. Liegt das Momentum bei den Russen, werden sie versuchen, eine Reihe von Siegen von Tschassiw Jar über Kostjantyniwka und Pokrowsk bis hin zu Kramatorsk und Slowjansk zu erringen. Damit würden sie die Donbass-Region einnehmen.»
Überblick von Kiew (oben links) bis zum besonders umkämpften Gebiet in der Ostukraine.
Tschassiw Jar unter Druck
Die Lage der ukrainischen Verteidiger in Tschassiw Jar ist derweil schwierig. Die russischen Angreifer verfügen über siebenmal mehr Artillerie. Die Ukrainer nutzten einen Kanal zu ihrem Vorteil, der westlich und südlich der Stadt verläuft. Doch laut «Independent» stellt die Konzentration russischer Truppen die ukrainische Armee vor Probleme. Ohne wirksame Stabilisierungs-Massnahmen werde Russland seinen zahlenmässigen Vorteil nutzen und den Kanal überwinden. Die Russen würden einen Brückenkopf auf der westlichen Seite errichten.
Ein ukrainischer Panzer feuert bei Tschassiw Jar auf russische Stellungen, 29. Februar 2024.
Der ukrainische Generalmajor Wadym Skibizkyj warnte in einem Interview mit dem Economist eindringlich. Es sei wohl nur eine Frage der Zeit, bis Tschassiw Jar falle.
Gemäss «Independent» vermutet die Ukraine, dass Putin die Stadt bis am 9. Mai erobern will. Dann wird der Sieg über Nazi-Deutschland gefeiert. Sollte die Zeit nicht reichen, wäre Putins Besuch in China in der kommenden Woche ein nächstes Datum.
Ukraine kann weiter hoffen
Der ukrainische Abgeordnete Wadym Iwtschenko, Vertreter des Ausschusses für nationale Sicherheit, zeigt sich unbeeindruckt, wie der Economist schreibt.
«Die Russen können keine grossen Städte einnehmen.»
– Wadym Iwtschenko –
Tschassiw Jar wirkt wie ausgestorben, 29. April 2024.
Die russische Armee könne nur kleine Dörfer und Landstriche einnehmen.
«Bei Bachmut, Awdijiwka und Tschassiw Jar sprechen wir von Städten mit Zehntausenden von Menschen. Die Russen haben die Städte einfach völlig zerstört. Keiner ist geblieben.»
– Wadym Iwtschenko –
Wenn sie weiterhin die russische Logistik angreift und ihre Artillerie-Vorräte aufstockt, könne die ukrainische Armee die Front wieder besser halten und Gebiete befreien, so Iwtschenko.
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