Wenn es schnell zu laut wird
Geräusche, Gerüche, Texturen oder Stimmungen «triggern» manche Menschen aussergewöhnlich stark. Betroffene müssen Strategien entwickeln, um sich gegen die Reizüberflutung zu wappnen.
Hat die Hochsensibilität von ihrer Mutter geerbt: Melanie Holle macht eine Ausbildung zur Primarlehrerin.
Die Schulzeit war für Melanie Holle nicht einfach: Es wurde ihr schnell zu laut, sie war extrem schüchtern, brach öfter in Tränen aus. Am wohlsten fühlte sie sich in der Natur, beim Lesen und in ihren Fantasiewelten. Besonders zu schaffen machte ihr aber, dass sie die Gefühle anderer Menschen wahrnimmt und registriert, wenn es diesen nicht gut geht. Als junges Mädchen war sie damit überfordert: «Ich wusste nie, ob ich sie darauf ansprechen darf und, falls ja, wie. Das stresste mich enorm.» Ausgleich und Erholung fand sie im Alleinsein. Zudem lenkte sie sich mit Musik ab und zog sich manchmal tagelang ununterbrochen Serien rein.
Dieses Sich-Abkapseln kennt Melanie Holle von ihrer Mutter. Auch diese zieht sich regelmässig für eine halbe oder ein paar Stunden zurück, wenn es ihr zu viel wird. «Als Kind empfand ich das als Abweisung», erinnert sich die heute 22-Jährige. «Erst ab einem gewissen Alter verstand ich, dass das nicht gegen mich gerichtet war, sondern wichtig für meine Mutter.»
Melanie Holle ist hochsensibel, genau wie ihre Mutter. Doch das wurde ihr erst klar, als sie für ihre Abschlussarbeit in der Fachmaturitätsschule recherchierte: Sie verfasste ein Kinderbuch zum Thema Hochsensibilität. Inzwischen gibt es «Ella und die grosse laute Welt» sogar in den Buchhandlungen zu kaufen.
Betroffene verfügen über ein heftiger reagierendes Nervensystem
Holles Mutter hatte lange einfach als «Mimösli» gegolten. Weil sich diese Menschen öfter zurückziehen, um sich von der Reizüberflutung zu erholen, gelten sie häufig als seltsam und einzelgängerisch. Einen Namen bekam das Phänomen erst 1997. Die amerikanische Psychologin Elaine Aron prägte damals den Begriff Hochsensibilität für Personen, die äussere Reize wie Gerüche, Geräusche oder Licht viel intensiver wahrnehmen als andere. Heute werden auch die Synonyme Hypersensibilität oder Neurosensibilität verwendet.
Simon Gautschy (43), Fachpsychologe für Psychotherapie FSP aus Aarau, hat sich unter anderem auf Hochsensibilität spezialisiert: «Vereinfacht gesagt, verfügen hochsensible Menschen über ein schneller und heftiger reagierendes Nervensystem. Dies ist angeboren und führt dazu, dass Betroffene auf allen Ebenen – körperlich, emotional und geistig – stärker auf alles reagieren, was in der Aussen- und der Innenwelt passiert. Vor allem auf Unbekanntes oder Veränderungen.» Wie viele Personen das betrifft, ist nicht ganz klar. In der Literatur und Forschung finden sich unterschiedliche Angaben, die Bandbreite reicht von 10 bis 30 Prozent.
Es gibt Hochsensibilität-Tests für Kinder und Erwachsene
Hochsensibilität ist keine Krankheit, es handelt sich daher auch um keine Diagnose im medizinischen Sinn. «Die Psychologie spricht von einer Temperamentseigenschaft», erklärt Simon Gautschy, der selbst hochsensibel ist. «Da gewisse Merkmale der Hochsensibilität auch Symptome einer psychischen oder psychiatrischen Störung sein können – beispielsweise einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer sozialen Phobie sowie von ADS oder ADHS –, ist es wichtig, diese Diagnosen auszuschliessen. Dazu kann eine Abklärung bei einer psychologischen Fachperson hilfreich sein.» Es gibt auch online Hochsensibilitäts-Tests für Kinder und Erwachsene, einen seriösen findet man zum Beispiel auf www.sensitivityresearch.com/de/selbsttests.
Noch immer kämpfen Hochsensible damit, dass sie nicht von allen ernst genommen werden. Selbst in Fachkreisen gibt es Zweifler. Gautschy: «Bei Fachpersonen, die sich ernsthaft mit dem Phänomen beschäftigt und sich eingelesen haben, ist das Thema etabliert. In der breiteren Öffentlichkeit dagegen gibt es teilweise Vorbehalte und Skepsis aufgrund von mangelndem Wissen.» Und wie sieht die Studienlage aus? Viele Untersuchungen orientieren sich nach wie vor an den Erkenntnissen von Elaine Aron. Doch nicht nur. «Die Wissenschaft beschäftigt sich seit mittlerweile über 20 Jahren mit dem Thema, und es wird auf der ganzen Welt dazu geforscht», so Simon Gautschy.
«Die Wissenschaft beschäftigt sich seit mittlerweile über 20 Jahren mit dem Thema»: Simon Gautschy, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP.
Tatsächlich geistert das Vorurteil herum, gewisse Männer und Frauen würden sich als hochsensibel bezeichnen, um schwierigen Aufgaben oder Verpflichtungen aus dem Weg gehen zu können. «Das ist schlicht falsch», sagt Simon Gautschy. «Hochsensible Menschen haben in der Regel sehr hohe Ansprüche an sich, ihr soziales und ihr Arbeitsverhalten. Unter schwierigen Bedingungen, beispielsweise am Arbeitsplatz, können Hochsensible tatsächlich weniger produktiv sein, weil sie Konflikte und Spannungen stärker wahrnehmen und mehr darunter leiden. Zudem haben sie oft individuellere Arbeitsrhythmen, weil sie mehr Pausen benötigen als andere, dafür aber in kürzerer Zeit mehr erledigen.»
Zentral ist, dass Betroffene lernen, mit ihrer Hochsensibilität umzugehen, ihre Bedürfnisse zu erkennen und diesen Raum zu geben. Das ist nicht immer einfach, weshalb sich die Frage stellt, ob Hochsensibilität mehr Fluch oder mehr Segen ist. Melanie Holle, die sich in der Ausbildung zur Primarlehrerin befindet, hat dazu eine klare Meinung: «Ich sehe sie als Vorteil, insbesondere in meiner Arbeit als Lehrerin und im privaten Bereich. Der Nachteil ist, dass ich mich stark an meine Routinen halten muss, da ich sonst schnell mit Reizüberflutung zu kämpfen habe. Ich zwinge mich daher, mir regelmässig Zeit für mich zu nehmen, weil es mir sonst nicht gut geht.» Zudem muss sie sich klar von den privaten Problemen ihrer Schülerinnen und Schüler abgrenzen.
Simon Gautschy sieht Hochsensibilität ebenfalls eher als Chance. «Wenn diese Menschen unter guten Bedingungen in einem liebevollen und unterstützenden familiären und sozialen Umfeld aufwachsen, verfügen sie in der Regel über ein grosses Glückspotenzial. Auch erbringen sie meist überdurchschnittliche Leistungen am Arbeitsplatz, vor allem in therapeutischen und sozialen Berufen.» Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: «Leider leiden viele Betroffene unter ihrer Hochsensibilität», sagt der Psychologe. «Vor allem in westlichen, von Reizüberflutung, Wettkampf und Leistungsdenken geprägten Gesellschaften.»
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