Was bedeuten die schockierenden Zettel in den Briefkästen?
«Gutsituierte müssen getötet werden, sie sind die Ursache von allem Elend und Armut.» Auf diese Zeilen stiessen Arbonerinnen und Arboner in den letzten Tagen in ihren Briefkästen. Die Polizei und ein forensischer Psychiater schätzen ein.
In den letzten Tagen wurden in Arbon Notizzettel mit Drohungen in diverse Briefkästen gelegt. Gerichtet waren sie gegen «Gutsituierte, da diese Elend und Armut verursachen», wie der Verfasser von Hand schreibt.
Allein beim Polizeiposten Arbon gingen 23 Meldungen ein, tatsächlich waren es aber weitaus mehr. Thomas Knecht, ehemaliger Gefängnispsychiater und forensischer Psychiater in Herisau, gibt Einblicke in die mögliche Psyche hinter den Drohungen.
Schon länger unzufrieden
«Es ist eine klare Stossrichtung erkennbar», sagt Knecht. «Sozioökonomische Unzufriedenheit beherrscht die Leute. Sie streben nach Gerechtigkeit und Vermögensumverteilung.»
Deswegen geht Knecht nicht von einer Affekttat aus. «Es ist gut möglich, dass bei dem Verfasser schon länger eine soziale Benachteiligungssituation besteht. Vielleicht hat sich die wirtschaftliche Situation stetig verschlechtert und die Person nimmt das als Anlass, ihren Unmut kundzutun.»
Psychoterror, um Frust abzulassen
Gemäss Knecht könnte der Verfasser der Drohungen glauben, er bewirkte etwas gegen seine eigene Unzufriedenheit, indem er das psychische Gleichgewicht der anderen Leute durcheinanderbringt. «Sie äussern ihre Aggression durch Psychoterror. Das soll Leute beunruhigen, sie in Angst versetzen und ihnen den Schlaf rauben.»
Einschätzung der Bedrohungslage
Eine tatsächliche physische Tat ist laut Knecht aber eher nicht zu erwarten. «Die Natur des Konflikts ist derart, dass zwischen der Person, die schreibt, und der Person, die die Drohung erhält, kein direkter Konfliktgegenstand besteht.»
Zudem ziele der Verfasser nicht auf die Tötung einer bestimmten Person ab: «Die Drohung ist diffus und richtet sich an viele, da bleibt nicht viel Frust gegen jeden einzelnen ‹Gutsituierten›.»
Auch die passive Formulierung «man müsste» ist gemäss Knecht ein Hinweis darauf, dass eher keine direkte Bedrohung von dem Verfasser ausgeht und die Empfänger sich nicht direkt bedroht fühlen.
23 bestätigte Meldungen in den letzten drei Tagen
Roxanne Gräflein, Sprecherin der Kantonspolizei Thurgau, bestätigt, dass in den letzten drei Tagen 23 Meldungen aus Arbon eingegangen sind. Strafanzeige erstattet habe aber bislang niemand. «Die Ermittlungen laufen, die bisherigen Erkenntnisse deuten nicht auf ein erhöhtes Gefahrenpotenzial hin, weder für die Empfänger der Briefe noch für die gesamte Bevölkerung», so Gräflein.
Wunsch nach medialer Öffentlichkeit
Knecht ergänzt, «es könnte aber auch ein blosser Wunsch nach medialer Öffentlichkeit sein». Entweder, um seinen Unmut über die momentane soziale oder wirtschaftliche Situation kundzutun, oder auch nur, um Aufmerksamkeit in News oder sozialen Medien zu erreichen. Gerade wenn die Nachricht so provokativ geschrieben ist, bestehe eine erhöhte Chance, dass mehr Menschen es teilen.