„Walhalla erwartet mich“
Ukraine
„Walhalla erwartet mich“
Ein Verwundeter auf einer Treppe in Kiew.
Verletzte ukrainische Soldaten werden in Deutschland versorgt – und viele wollen zurück an die Front. Eine Reportage.
Wenn Danylo Palii in Hamburg ein Flugzeug hört, muss er den Impuls unterdrücken, sich auf den Boden zu werfen. Wo der 23-Jährige herkommt, sind Flugzeuge keine harmlosen Verkehrsmittel, sondern todbringende Waffensysteme. Zuletzt hat der Soldat als Maschinengewehrschütze in Soledar in der Ukraine gekämpft, einer Kleinstadt, die russische Truppen Anfang vergangenen Jahres eingenommen haben.
Palii hat kurze blonde Haare. Er trägt Jeans und einen Hoodie, unter dem ein Tattoo zu sehen ist: „Walhalla erwartet mich.“ Der mythische Ruheort gefallener Kämpfer wird sich gedulden müssen, der junge Mann ist dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen, als er im August 2022 verwundet wurde. Die Verletzung war allerdings so schwer, dass er zur Behandlung nach Deutschland kommen musste.
Seit März 2022 sind mehr als 1000 schwer verletzte und schwer kranke Ukrainer:innen zur Behandlung nach Deutschland gebracht worden, darunter rund 700 Soldat:innen. Insgesamt sind mehr als 3000 Menschen aus der Ukraine in EU-Staaten evakuiert worden, Deutschland trägt daran bei weitem den größten Anteil. Man sei stolz darauf, betonte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Monat. Dass diese Hilfe nötig sei, lasse „das unermessliche Leid erahnen, das Putins grausamer Angriffskrieg verursacht.“
Schlagzeilen machte am Wochenende der Fall von zwei ukrainischen Soldaten, die zur medizinischen Rehabilitation nach Deutschland gebracht worden waren – und am Samstagabend in Murnau in Oberbayern getötet wurden. Die Polizei hat einen 57 Jahre alten Russeneinen Russen als Tatverdächtigen festgenommen.
Am Montag erklärte die Generalstaatsanwaltschaft München, die Ermittlungen übernommen zu haben. Eine politische Tatmotivation könne nicht ausgeschlossen werden. Dass die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen an sich zieht, bedeutet aber nicht zwingend, dass eine politische Motivation vorliegt. Laut Polizeiangaben gab es zunächst keine Hinweise darauf, dass der russische Angriffskrieg eine Rolle bei der Tat spielte.
Palii hat das Gefecht, bei dem er verwundet wurde, mit seiner Helmkamera aufgezeichnet. Man sieht sein Maschinengewehr, er feuert. Nach dem Treffer durch einen Granatsplitter kann Palii sich noch zum Sanitäter schleppen. Auf dem Video ist zu sehen, wie sein verletzter linker Arm herabhängt. Ein Röntgenbild zeigt seinen völlig zertrümmerten Oberarmknochen. „Die Ärzte in der Ukraine hatten Probleme, weil die Implantate immer abgestoßen wurden“, sagt Palii. Ende Juli 2023 sei er daher nach Hamburg gebracht worden.
„Hier wurde mir ein Knochenteil aus meinem Becken rausgesägt und in meinen Arm eingesetzt.“ Elf Operationen hat Palii hinter sich. Ein Foto nach einem der ersten Eingriffe zeigt ihn mit eingefallenem Gesicht, in seiner offenen linken Schulter ist eine Metallkonstruktion angebracht, die seinen bandagierten Arm stützt. Die Metallstäbe erinnern vage an futuristische Kampfmaschinen aus Science-Fiction-Filmen. Weil ein Stück Knochen entfernt werden musste, ist der verletzte Arm fünf Zentimeter kürzer als der andere. Inzwischen ist Palii in der Reha, seinen Arm kann er zwar noch nicht wieder belasten, aber immerhin bewegen.
Untergekommen ist Palii in einem früheren Hotel. Der schmucklose Kasten beherbergt vor allem ukrainische Geflüchtete, aber auch rekonvaleszente Soldaten. In den Fluren sind die Fernseher aus den Zimmern zu hören. Ein Einzelbett, ein Fernseher, ein kleiner Kühlschrank und ein schmaler Schreibtisch gehören zum Inventar von Paliis Bleibe. Aus dem Fenster blickt man auf das bekieste Flachdach des Seitenflügels.
Lange wird Palii hier nicht mehr sein. Ende Mai geht es für ihn zurück – in die Ukraine und den Krieg. „Ich kann mit der Verletzung zwar nicht mehr MG-Schütze sein“, sagt er. „Aber ich will wieder an die Front.“ Dort kämpft auch sein Vater. Ob er sich nicht fürchte? „Natürlich habe ich Angst“, antwortet er. „Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie es sich anfühlt, verwundet zu werden.“ Er steht weiter in Kontakt mit seinen Kameraden. „Der Krieg hat sich verändert, auch wegen der Drohnen. Es gibt jetzt weniger Verletzungen, die wieder heilen, und dafür viel mehr Amputationen.“
Evgenii Leshan sagt: „Manchmal bedauere ich, dass das Bein nicht amputiert wurde“, sagt der 48-Jährige. „Dann wären die Probleme vorbei. Mit einer Prothese könnte ich längst wieder laufen.“ Zwölf Zentimeter Knochen seien entfernt worden. Er habe aufgehört, die OPs zu zählen, es waren mehr als zehn.
Leshan ist Offizier, auch er wurde durch einen Granatsplitter verwundet, das war im Juni 2022 in der Nähe der ostukrainischen Stadt Charkiw. Das Bein infizierte sich, die Wunde heilte nicht, weil die Bakterien resistent gegen Antibiotika waren – ein Problem, unter dem viele Verwundete leiden. Schon Ende Juni 2022 kam Leshan nach Hamburg. Fünf Monate lag er im Bundeswehrkrankenhaus, jetzt ist auch er in einem Hotel untergebracht. Seine Frau und sein jüngerer Sohn konnten ihn nach Hamburg begleiten, sein älterer Sohn kämpft in der Ukraine gegen die russischen Besatzer. Seit einer Woche kann sich Leshan immerhin wieder ohne Krücken fortbewegen.
Das Humpeln bereitet ihm sichtlich Mühe, sein Fußgelenk sei steif, sagt er. Dennoch vermutet er, dass auch er in zwei Monaten wieder zurückkehren wird an die Front. Dort werde er „passende Aufgaben“ übernehmen. „Vielleicht kann ich im Kommandostab arbeiten.“
Mit ihm würden auch seine Ehefrau und sein Sohn zurückkehren in die Ukraine. „Ich wäre ruhiger, wenn sie in Deutschland blieben. Aber sie wollen zurück nach Kiew.“ Er selbst freue sich darauf, „bald wieder in der Ukraine zu sein. Wobei Freude nicht das richtige Wort ist, weil die Lage nicht erfreulich ist.“ Tatsächlich sei sie angesichts des russischen Vormarschs sehr schwierig. „Aber trotzdem halten wir die Front.“
Den Deutschen ist Leshan dankbar. „Früher in der Sowjetunion sagte man, die Deutschen seien nicht offen, wenn sie lächelten, komme das nicht von Herzen. Ich habe hier gemerkt, dass das nicht stimmt.“ Angetan sei er von der hohen Professionalität des medizinischen Personals in Hamburg, er werde mit vielen positiven Eindrücken zurückgehen. Begeistert ist Leshan über die ukrainische Diaspora in Hamburg, besonders der Verein „Feine Ukraine“ habe ihn sehr gut unterstützt.
Bei dem seit 2011 bestehenden „Verein der deutsch-ukrainischen Zusammenarbeit“ engagiert sich etwa Kateryna Rumyantseva. Die 30-Jährige ist an diesem Tag in das Hotel im Osten Hamburgs gekommen, um für die verwundeten Soldaten zu übersetzen. Die Freiwilligen machen auch Termine für die Verletzten, helfen mit Wegen, organisieren Dokumente oder unternehmen Ausflüge.
Maksym Zelenenko ist ein weiterer Verwundeter, denen der Verein beisteht. Ihn plagen traumatische Albträume, von denen er schweißgebadet aufwache. Er wurde bei einem Einsatz in der Südukraine von einer Mörsergranate getroffen .„Ich wurde am Bauch und am Bein verletzt. Es war, als hätte mich ein Vorschlaghammer getroffen.“ Vor seiner Verlegung nach Hamburg sei er 111 Tage lang in der Ukraine behandelt worden, seine Ehefrau war in dieser Zeit an seiner Seite. Nur dank ihr sei er an seinem Trauma nicht zerbrochen.
Inzwischen wurde auch er mehrfach operiert, in sein Bein sei eine Metallplatte eingesetzt worden. Fortbewegen kann er sich nur auf Krücken. Dennoch möchte auch er so bald wie möglich in seine Einheit zurück. Er hofft, etwa bei der psychologischen Betreuung der Truppen helfen zu können: „Da weiß ich inzwischen, worauf es ankommt.“
Zelenenko ist überzeugt, dass Russland andere Länder angreifen wird, wenn die Ukraine den Krieg verliert. „Ich will nicht, dass deutsche Frauen und Kinder irgendwann erleiden müssen, was gerade der Ukraine geschieht.“ Zelenenkos Ehefrau, die 15 Jahre alte Tochter und der siebenjährige Sohn sind in der Stadt Dnipro, die von Russland immer wieder mit Raketen beschossen wird. Bei einem tödlichen Angriff vor Kurzem habe er gedacht, „ich lasse hier alles liegen, fahre zurück nach Dnipro, schicke meine Frau und die Kinder außer Landes und schließe mich wieder meinem Bataillon an“. Es falle ihm schwer, mit der Ruhe in Hamburg klarzukommen, während in seiner Heimat Krieg herrscht. „Meine Familie ist in Dnipro, wo Raketen einschlagen, und ich bin hier“, sagt er. „Es sollte umgekehrt sein.“ mit dpa