„Russland instrumentalisiert Migranten“ : Wie Finnland Geflüchtete vom Grenzübertritt abhalten will

Finnlands Grenzen sind seit Monaten geschlossen, weil Moskau gezielt Flüchtlinge ins Land lotst. Jetzt versucht Helsinki, Geflüchtete stärker abzuschrecken – ist das rechtens?

„russland instrumentalisiert migranten“ : wie finnland geflüchtete vom grenzübertritt abhalten will

Finnlands Grenze zu Russland bleibt auf unbestimmte Zeit dicht.

Es war eine Reise mit Symbolkraft. Der erst im Februar neu gewählte finnische Staatschef Alexander Stubb unternahm Ende März seine erste Inlandsreise in neuer Funktion – und reiste an die seit Monaten geschlossene Ostgrenze zu Russland.

Dort forderte er laut dem öffentlich-rechtlichen Sender Yle auf einer Pressekonferenz, Finnland müsse mehr für den Grenzschutz tun. „Wenn Russland Migranten instrumentalisiert und als Waffen benutzt, müssen wir die Mittel haben, das zu verhindern.“ Genau daran arbeitet seine Regierung seit Wochen – und versucht nun, mit einem umstrittenen Gesetz, bislang illegale Pushbacks zu legalisieren.

„Das neue Grenzgesetz wird derzeit noch von der Regierung vorbereitet, stößt aber in Finnland bereits auf viel Kritik“, sagt die Politikwissenschaftlerin Johanna Vuorelma dem Tagesspiegel. „Es ist daher unklar, ob es tatsächlich vom Parlament verabschiedet werden kann.“

Neues Gesetz ist nicht verfassungskonform

Konkret trägt das Vorhaben von Helsinkis rechtskonservativer Regierung den Titel „Bekämpfung der instrumentalisierten Einreise“. Demnach soll Finnland in Ausnahmefällen einen einmonatigen Aufnahmestopp für Asylanträge verhängen dürfen.

Das würde aber nicht nur gegen internationales Recht verstoßen, sondern explizit auch gegen die finnische Verfassung, sagt die Politologin Vuorelma. „Das ist schon ein sehr ungewöhnlicher Vorschlag.“

Durch die Schließung der Grenzen macht man aus Moskaus Angriff ein rein finnisches Problem, dabei ist es ein europäisches.

Maxime Lebrun, Analyst beim European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) in Helsinki

Die universellen Menschenrechte sind in der finnischen Verfassung gleich im ersten Paragrafen verankert, gesetzliche Sonderregelungen müssen zudem mit internationalen Menschenrechten vereinbar sein. Laut Genfer Flüchtlingskonvention muss jeder Antrag auf Asyl individuell überprüft werden – genau dagegen würde Finnland aber verstoßen.

Helsinki wirft Moskau vor, gezielt Geflüchtete an die gemeinsame Grenze zu lotsen, damit sie in Finnland Asyl beantragen und das Land so zu „destabilisieren“.

Im November sind etwa 600 Menschen ohne Papiere finnischen Regierungsangaben zufolge über Russland eingereist. Seit Dezember ist die Grenze vollständig geschlossen.

„Diese Entscheidung gibt Russland ein zusätzliches Druckmittel in die Hand“, sagt Maxime Lebrun, der in Helsinki im Recherchezentrum HybridCoE zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen forscht. Zudem tue Finnland zu wenig, um dieser hybriden Kriegführung etwas entgegenzusetzen. „Durch die Schließung der Grenzen macht man aus Moskaus Angriff ein rein finnisches Problem, dabei ist es ein europäisches.“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte zudem fest, dass auch ein „Hybridangriff“ nicht Grund genug ist, um das Recht auf Asyl einzuschränken. Das allerdings fand auch in andern Nachbarländern Russlands wenig Gehör: Estland legalisierte illegale Pushbacks 2022 „in Ausnahmefällen“, in Litauen wie Polen gibt es ähnliche Gesetze. Finnlands Regierung rechtfertigt den Gesetzesentwurf nun mit einer angeblichen Gefahr der nationalen Sicherheit.

Mehrheit im Parlament nicht wahrscheinlich

Genau dieses Argument wird immer wieder scharf von Menschenrechtsorganisationen wie Völkerrechtlern kritisiert. Finnlands Antidiskriminierungsbeauftragte Kristina Stenman ist der Ansicht, dass „nationale Sicherheit ein ziemlich weit gefasster Begriff ist, der eher politisch als rechtlich ist“. Mit dem Gesetzesentwurf verstoße die Regierung dagegen „sehenden Auges gegen internationale Vereinbarungen und EU-Recht“.

Der Völkerrechtler Martti Koskenniemi sagte der Tageszeitung „Huvudstadsbladet“, verfassungsrechtlich klinge das Gesetz „faschistisch“: „Es ist immer bequem, sich auf die Sicherheit zu berufen, wenn man den demokratischen Rechtsstaat außer Kraft setzen will“. In der Praxis sei dies jedoch ein beliebtes Argument für Diktatoren, um in die Menschenrechte einzugreifen.

Es ist immer bequem, sich auf die Sicherheit zu berufen, wenn man den demokratischen Rechtsstaat außer Kraft setzen will.

Martti Koskenniemi, Völkerrechtler

Noch im April soll das Parlament über das Gesetz abstimmen. Da es Ausnahmeregelungen wie den Aufnahmestopp für Asylanträge gesetzlich erlauben soll, braucht es eine Mehrheit von fünf Sechsteln der Abgeordneten. Linke und Grüne haben bereits angekündigt, dagegen zu stimmen. Es gilt daher als wahrscheinlich, dass dem regierenden Viererbündnis Stimmen fehlen werden.

Die zweitstärkste Kraft der Koalition dürfte die Debatte sowieso aus politischem Kalkül führen. Finnlands rechte Hardliner, die „Wahren Finnen“, warben in der Vergangenheit mit dem Slogan „Grenzen schließen“ um Stimmen und warnten immer wieder vor einer angeblichen „Lawine von Menschen“, die Finnlands Sozialsysteme ausnutzen wollten. Vor der Grenzschließung im Dezember kamen jedoch im Durchschnitt nur etwa zehn Menschen pro Tag ins Land.

„Das vorgeschlagene Gesetz entspricht natürlich den politischen Interessen der Wahren Finnen als einwanderungs- und flüchtlingsfeindlicher Partei“, sagt Johanna Vuorelma. Auch deshalb verweise die Partei immer wieder auf die Bedrohung durch Russland und treibe Grenzschließungen mit Nachdruck voran. „Das erscheint vielen Finnen legitimer, als zu sagen, wir wollen keine Ausländer in Finnland.“

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World