„Die Passagierin“ im Staatstheater Mainz: Im Raum der Erinnerung

„die passagierin“ im staatstheater mainz: im raum der erinnerung

Konfrontation mit der Vergangenheit: Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ im Staatstheater bewegt szenisch und musikalisch.

Wenn in einer Potsdamer Villa Neurechte über Depor­tationen schwadronieren, wenn ein gewählter Repräsentant aus ihren Reihen das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas als „Denkmal der Schande“ bezeichnet, dann liegen die Relevanz und die Aktualität von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ auf der Hand. Das Staatstheater Mainz, an dem nun die Übernahme einer Produktion der Oper Graz von 2020 Premiere hatte, hat sich natürlich lange schon und gründlich auf das Werk vorbereitet, das der 1919 in Warschau geborene und vor den Na­tional­sozialisten nach Moskau geflohene Komponist 1968 vollendete. Erst 2010, in Bregenz, wurde die Oper zum ersten Mal szenisch gezeigt. Sie beruht auf dem autobiographischen Roman „Die Passagierin“ der 2022, fast hundertjährig, gestorbenen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz. Ganz am Ende der fast dreieinhalb Stunden langen Mainzer Auf­führung gehört der Bühnenraum von Etienne Pluss der Autorin in Gestalt einer Fotografie und ei­nes projizierten Zitats allein.

Auf zwei Zeitebenen spielt die Oper, in der die ehemalige Lageraufseherin Lisa mit ihrem Mann, einem karrierebe­wussten bundesdeutschen Diplomaten, 15 Jah­re nach Kriegsende auf der Schiffsüberfahrt nach Brasilien die einstige Inhaftierte Marta zu erkennen glaubt. Lisas Verdrängungsversuchen steht die immer stärkere Präsenz des Lagers gegenüber, die sie trotz ihrer Rechtfertigungs- und Relativierungsversuche einholt. In die Szene drängen die Brutalität der Aufseher, die Verzweiflung der Häftlinge, aber auch eine verstörende Nähe zu Marta, die Lisa zu suchen schien. Das setzt sich fort in unserer Gegenwart als dritter Zeitebene, die Regisseurin Nadja Loschky in Gestalt einer fast stummen alten Frau (Heide-Marie Böhm-Schmitz) einzieht. Sie stellt Lisa heute dar, die sich durch den grau-weißen Einheits- und Erinnerungsraum bewegt. Er bleibt abstrakter und lässt das Geschehen doch zugleich näherkommen als etwa der konkrete Schiffsraum, in dem Anselm Webers Inszenierung des Werks 2015 an der Oper Frankfurt spielte.

„die passagierin“ im staatstheater mainz: im raum der erinnerung

Die Oper „Die Passagierin“ basiert auf dem gleichnamigen Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz.

Die szenisch wie musikalisch eindringliche Aufführung im Großen Haus des Staatstheaters Mainz hat viele beklemmende Momente. Wenn Martas Mitgefangene Katja (Julietta Aleksanyan) ganz ohne Begleitung des Orchesters ein schlichtes Lied singt. Wenn Tadeusz (Brett Carter), der Verlobte Martas, dem Wunsch des Kommandanten nach seinem „Lieblingswalzer“ mit Bachs berühmter, strenger Chaconne antwortet, die alle Geigen im Orchester teilen, und er sofort ermordet wird. Aber auch, wenn die alte Lisa sieht, also weiß, dass leblos-nackte Körper in Luken geschoben wurden. Das zeigt die Regie zwar abstrahiert, und sogar an Irina Spreckelmeyers Kostümen der Aufseher ist kein Hakenkreuz zu sehen. Trotzdem ist alles so klar, dass an der historischen Wahrheit keine Zweifel bleiben. Anders als gelegentlich an der Erinnerung, deren Täuschungen, Unschärfen und nach­lassenden Gewissheiten die Regisseurin manchmal so beklemmend Raum gibt, dass es irritiert. Aber so stellt sie zugleich klar, warum das Erinnern nicht nachlassen darf.

Stark besetzte Hauptpartien

Auch Weinbergs Musik scheint mit der Erinnerung zu spielen. Bestimmte Motive klingen immer wieder an, aber auch mu­sikalische Stile, manchmal sogar Unterhaltungsmusik und Märsche, die freilich stark verfremdet werden. Zur inneren Ruhe kommt diese Musik jedenfalls nie, darin wirkt sie kompromissloser als die des Weinberg-Vertrauten Dmitri Schosta­kowitsch. Hermann Bäumer und das stark geforderte Philharmonische Staatsorchester Mainz lassen das mit nie nach­lassender Intensität deutlich werden. Zumal die Hauptpartien stark besetzt sind: Margarita Vilsone singt die Partie der Marta mit klar deklamierendem Sopran, Karina Repova die Lisa in der Ausübung ihrer Macht so fest wie im Versuch des Verdrängens. Als sie immerhin sagt, dass sie Wärterin in Auschwitz war, reagiert ihr Mann Walter nur mit bundesdeutschen Karriereängsten, die Florian Stern so jäh und direkt aussingt, dass auch diese Form des Verdrängens schmerzen muss.

Zofia Posmysz und dem schon 1996 gestorbenen Komponisten ist in Mainz aufmerksames Gehör zu wünschen. Siebenmal noch zeigt das Staatstheater die Oper, die von einem Programm mit Lesungen, Rundgängen sowie einer Ausstellung in Gängen und Foyer begleitet wird.

Die Passagierin, Staatstheater Mainz, Großes Haus, nächste Termine am 23. und 31. Januar, jeweils von 19.30 Uhr an sowie am 28. Januar von 15 Uhr an.

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