Ausstellung „Gerettete Moderne“: Er versteckte den Expressionismus vor den Nazis

ausstellung „gerettete moderne“: er versteckte den expressionismus vor den nazis

Von den Nazis verwemt, von Willy Kurth gerettet: Erich Heckels Farbholzschnitt „Zwei ruhende Frauen“ von 1909

Am Samstag, 14. August 1937, betreten vier Herren im Anzug die Räume des Berliner Kupferstichkabinetts im Obergeschoss des Neuen Museums auf der Museumsinsel. Sie gehören zu einer Kommission, die von der Reichskammer der Bildenden Künste im Auftrag Goebbels’ eingesetzt wurde. Sie sind gekommen, um sich Kunstwerke zeigen zu lassen – aber nicht, um sie zu studieren, sondern um sie auszusortieren: als „Entartete Kunst“.

Dann beginnt die Sichtung. „In rasender Eile“, wie es später heißt, werden Museumskästen mit einzelnen Blättern und mehrteiligen Mappenwerken herbeigetragen, die der für moderne Kunst zuständige Kustos Willy Kurth und sein Assistent Wolfgang Schöne der Kommission vorlegen. Insgesamt sind es mehr als tausend Arbeiten, von denen die vier Herren etwa sechshundert als „entartet“ markieren. Als „gefühllos und täppisch“ beschreibt der ebenfalls anwesende Direktor des Kupferstichkabinetts, Friedrich Winkler, die Aktion, unternimmt aber seinerseits nichts, um sie zu unterbinden. Als die Kommission am darauffolgenden Montag noch einmal wiederkommt, um Werke ausländischer Künstler zu sichten, ist Winkler abermals zugegen. Aus dem reichen Bestand von Gauguin, van Gogh, Picasso und anderen wird ein Blatt von Braque ausgewählt. Dann soll Willy Kurth die Liste der beschlagnahmten Werke erstellen. Aber Kurth lässt sich Zeit.

Karteikarten verschwinden, Blätter werden versteckt

Denn Willy Kurth hat schon am Samstagabend, kurz nach dem ersten Besuch der Kommission, damit begonnen, deren Arbeit zu sabotieren, und er wird sein Sabotagewerk in den folgenden Tagen fortsetzen. Weil von den konfiszierten Blättern nur die Gesamtzahl und einige Künstlernamen notiert wurden, tauscht er un­be­merkt wichtige Arbeiten gegen weniger wichtige, Erstdrucke gegen Dubletten und Werke erstklassiger Künstler gegen solche von zweitrangigen aus. Die dergestalt un­ter­schla­ge­nen Kunstwerke trägt er auf seinen Inventarlisten als „abgegeben“ oder als Bestandsverlust aus oder lässt die Karteikarten ganz verschwinden. Viele Blätter lässt er hinter den Passepartouts von Rembrandt-Zeichnungen und Dürergrafiken verschwinden, andere versteckt er an verschiedenen Stellen der Museumsinsel, einige auch in seinem Dienstzimmer. Als die beschlagnahmten Werke abgeholt werden, entspricht zwar ihre Anzahl, aber nicht ihr Inhalt der Auswahl der Kommission.

An diesem Augustwochenende rettet Willy Kurth den Kernbestand der klassischen Moderne im Kupferstichkabinett vor der Zerstreuung und Zerstörung und sichert seiner Institution damit ihren Platz unter den wichtigsten grafischen Sammlungen der Welt. In der Nachkriegszeit, als seine Bestände auf Museen in Ost- und Westberlin verteilt waren, hat das Kupferstichkabinett etwa ein Drittel der sechshundert als „entartet“ ausgemusterten Blätter durch Rückführung oder Kauf auf dem Kunstmarkt zurückerhalten, aber die Spitzenwerke von Kirchner, Grosz, Beckmann, Dix, Lehmbruck und vielen anderen, die Kurth dem Zugriff von Goebbels entzog, hätte es aus eigenen Mitteln nicht wiederbeschaffen können.

Gleichwohl hat es Jahrzehnte gedauert, bis die Dimensionen von Kurths Rettungsaktion gänzlich sichtbar wurden. „Wir haben wieder etwas gefunden!“, war unter Museumsmitarbeitern in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein üblicher Ausruf, wenn wieder eine Ikone der modernen Kunst aus ihrem Versteck geborgen wurde. Sogar nach der Jahrtausendwende wurden noch einzelne verloren geglaubte Blätter entdeckt.

Nach der Aktion besuchte er Kirchner in Davos

Eine Auswahl der von Kurth geretteten Werke ist jetzt in einer Ausstellung am Berliner Kulturforum zu sehen, mit der das Kupferstichkabinett an seinen langjährigen Kustos erinnert. Sie fußt auf einer im letzten Jahr erschienenen vierhundertseitigen Monographie, in der Anita Beloubek-Hammer, eine Nachfolgerin Kurths in der Moderne-Sammlung des Kabinetts, alles heute Erfahrbare zur Aktion „Entartete Kunst“ in den Berliner Museen und noch mehr zu Willy Kurth zusammengetragen hat – zu seinen Anfängen als Maler, seinen zahlreichen öf­fent­li­chen Vorträgen, seiner Lehr- und Ku­ra­to­ren­tä­tig­keit und seinen späten Jahren als umstrittener Generaldirektor der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci.

Aber während in Beloubek-Hammers Buch die Kunst nur als Illustration zu den Textpassagen dient, steht sie in der Ausstellung im Mittelpunkt. Zehn Blätter von Kirchner, acht von Barlach, sechs von Schmidt-Rottluff und je fünf von Heckel, Grosz und Nolde bezeugen das deutliche Übergewicht des Expressionismus in der Sammlung, die Kurth von seinem Vorgänger Curt Glaser übernahm und in den Zwanziger- und Dreißigerjahren konsequent ausbaute. Kirchner zumal war für Kurth so wichtig, dass er ihn noch im September 1937, wenige Wochen nach der Beschlagnahmungsaktion, in Davos besuchte, obwohl der persönliche Kontakt zwischen dem Museumsmann und dem de­pres­si­ven Künstler eher frostig verlief. Am 14. August waren 29 Grafiken Kirchners konfisziert worden, 132 weitere konnte Kurth retten. Zu ihnen gehört der Holzschnitt „Kopf des Kranken“ von 1917, auf dem Kirchner sich selbst im Schweizer Sanatorium porträtierte, eine seiner besten Ar­beiten aus den Weltkriegsjahren.

Auch Max Beckmanns Mappenwerk „Die Hölle“ von 1919 hat Kurth vor dem Aussortiertwerden bewahrt. In der elfteiligen Folge von Lithographien hat Beckmann das Berlin der frühen Weimarer Republik so geschildert, wie es Fritz Lang zwei Jahre später in seinem „Dr. Mabuse“-Diptychon durch das Auge der Filmkamera sah: Spieler, Schieber, Gangster und Prostituierte, hungernde Arbeiterfamilien, prassende Kriegsgewinnler, ein Hexensabbat, dem der junge Staat wie ein mühsam hoch gepäppeltes krankes Kind entsprang. Noch härter, noch böser haben nur George Grosz und Otto Dix die „goldenen“ Zwanziger beschrieben, in Bildern, die der Nazikunst den Krieg erklärten, indem sie deren vorgeblichen Verismus als künstlerische Flachware entlarvten. Auch sie – die „Straße“ und „Inflation“ ebenso wie die „Billardspieler“ und „Streichholzhändler“ – hat Kurth vor dem Häschern bewahrt.

Um Ideologie ging es ihm dabei nicht. Wenn man Emil Noldes „Dampfer“-Bilder und sein Selbstporträt von 1908 in der Ausstellung sieht, begreift man, dass Kurth seinerzeit keine politische, sondern eine ästhetische Wahrheit gegen die Kunstsäuberungen der Nazis verteidigte. Sein Assistent Schöne war Mitglied der SA und später der NSDAP, dennoch half er Kurth beim Verstecken der verfemten Werke. Wolfgang Schöne wurde nach dem Krieg Ordinarius für Kunstgeschichte in Hamburg, Willy Kurth bekam den Nationalpreis der DDR. Über seine Rettungsaktion sprach er bis zu seinem Tod im Jahr 1963 nur in Andeutungen. Auf sein Grab solle man nicht schreiben, was er getan, sondern was er verhindert habe, sagte er einmal zu seinen Studenten. Die Berliner Ausstellung setzt ihm jetzt das Denkmal, das er verdient hat, seitdem er die Untat verhinderte.

Die gerettete Moderne. Meisterwerke von Kirchner bis Picasso. Kupferstichkabinett Berlin, bis 21. April. Der Band „Die Aktion ‚Entartete Kunst’ 1937 im Berliner Kupferstichkabinett“ von Anita Beloubek-Hammer kostet 40 Euro.

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