Verwirrung um Geiselabkommen: Die Hamas akzeptiert einen Vorschlag für eine Feuerpause – doch Israel ist nicht einverstanden
Vertriebene haben in Rafah Schutz gefunden. Nun sollen Tausende evakuiert werden. Hatem Khaled / Reuters
Die Hamas hat einen ägyptisch-katarischen Vorschlag für eine Feuerpause in Gaza akzeptiert. Das teilte die Terrororganisation am Montagabend mit. Laut einer Mitteilung der islamistischen Gruppierung hat der im katarischen Exil lebende Hamas-Chef Ismail Haniya den Ministerpräsidenten von Katar und den Geheimdienstchef Ägyptens über die Annahme des Vorschlags informiert.
In israelischen Medien kursierten jedoch kurz darauf Meldungen, dass die Hamas einem Abkommen zugestimmt habe, das Israel zuvor nicht akzeptiert habe. Am späteren Abend teilte das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu mit, der Vorschlag erfülle die israelischen Forderungen bei weitem nicht. Eine Delegation werde sich mit den Verhandlern treffen, um den Vorschlag weiter zu diskutieren. Israel werde seine geplante Militäroffensive in Rafah fortsetzen.
Laut Berichten von Reuters und al-Jazeera sieht der von der Hamas akzeptierte Vorschlag ein dreistufiges Vorgehen vor. Jede Phase der Waffenruhe soll 42 Tage andauern. In der ersten Phase sollen israelische Geiseln und palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. In der zweiten Phase soll sich Israel komplett aus dem Gazastreifen zurückziehen. Schliesslich soll die Blockade des Gazastreifens aufgehoben werden. Dies teilte Khalil al-Haya mit, der Vizechef der Hamas in Gaza.
Im Gazastreifen brachen spontane Feierlichkeiten auf der Strasse aus, als die Hamas am Abend ankündigte, eine Feuerpause zu akzeptieren. In Tel Aviv blockierten derweil Hunderte Menschen die Strasse vor dem Hauptquartier der israelischen Streitkräfte und forderten ein sofortiges Abkommen, um die verbleibenden Geiseln zu befreien.
Israel fordert Bevölkerung zur Evakuierung aus Rafah auf
Zuvor hatte Israel am Montagmorgen etwa 100 000 Bewohner von Rafah zur Evakuierung aufgefordert. Es handle sich um eine «begrenzte Operation im östlichen Teil Rafahs und keine grossangelegte Evakuierung», teilte ein Sprecher der israelischen Streitkräfte (IDF) mit. Das Militär rief die Einwohner im Osten der Stadt an der Grenze zu Ägypten dazu auf, sich in das einige Kilometer weiter nördlich gelegene Al-Mawasi-Lager am Mittelmeer zu begeben.
Um 8 Uhr morgens begann das israelische Militär damit, Flugblätter über dem Gebiet abzuwerfen, in denen die Bewohner dazu aufgefordert werden, sich in die «erweiterte humanitäre Zone» zu begeben. Ausserdem warnten die IDF die Zivilbevölkerung laut eigenen Angaben mit SMS, Telefonanrufen sowie Medienberichten auf Arabisch. Israels Militärsprecher Daniel Hagari sagte am Montagabend, dass die Luftwaffe am Montag fünfzig Ziele in Rafah angegriffen habe. Die IDF bereiteten sich auf eine grössere Bodenoffensive in Ost-Rafah vor. Auch am Abend führten die IDF laut eigenen Angaben «präzise Schläge» gegen Ziele in Ost-Rafah durch.
In der Vergangenheit hatten sich Israels Verbündete vehement gegen eine Offensive in der Stadt im Süden des Gazastreifens gestellt. Dort befinden sich rund 1,5 Millionen Zivilisten, die vor den Kämpfen in anderen Teilen des Gebiets Schutz gesucht haben. Diese harren bereits seit Monaten unter äusserst schwierigen Bedingungen in der überfüllten Stadt aus. Israel vermutet dort auch die letzten vier verbliebenen Bataillone der Hamas, weshalb es seit Monaten plant, die Stadt anzugreifen.
Menschen beobachten am 6. Mai aufsteigenden Rauch im südlichen Teil des Gazastreifens. Hatem Khaled / Reuters
Der militärische Druck wurde erhöht
Mit der Aufforderung zur Evakuierung des östlichen Teils von Rafah hat Israel den Druck auf die Hamas erhöht, nachdem die Verhandlungen um ein erneutes Abkommen über einen temporären Waffenstillstand sowie einen Austausch von Geiseln und Gefangenen kurz vor dem Scheitern gestanden waren. Die Hamas hat in den vergangenen Tagen auf einen vollständigen Waffenstillstand bestanden, während Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wiederholte, dass jede Feuerpause nur zeitlich begrenzt sein könne.
Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant bezeichnete einen bevorstehenden Militäreinsatz in Rafah in einem Telefonat mit seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin am Morgen als alternativlos. Israel habe viel getan, um ein Abkommen mit der Hamas über einen temporären Waffenstillstand sowie einen Austausch von Geiseln und Gefangenen zu vereinbaren. «Uns wurde keine Wahl mehr gelassen. Und das bedeutet, dass die Operation in Rafah beginnt.» Vordergründig scheint Israels Kalkül, die Hamas mittels militärischen Drucks zum Einlenken zu bringen, aufgegangen zu sein – dennoch ist fraglich, ob tatsächlich eine Feuerpause bevorsteht.
Israels Regierung könnte zerbrechen
Sollte Israel einem Ende der Kämpfe zustimmen, könnte das auch das Ende der von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu geführten Regierung bedeuten. Seine rechtsextremen Koalitionspartner lehnen jeglichen Kompromiss mit der Hamas vehement ab. Der Krieg gegen die Hamas solle unter keinen Umständen gestoppt werden und die Offensive in Rafah so bald wie möglich beginnen, wiederholten Finanzminister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit.
Letzterer nannte die Ankündigung der Hamas einen Trick, auf den Israel mit einer sofortigen Eroberung Rafahs antworten sollte. Noch bevor die Details des Abkommens bekannt waren, sagte Ben-Gvir, dass Israel den militärischen Druck erhöhen und die Hamas vollständig zerstören müsse. Auch diese Kompromisslosigkeit und die Aussicht auf Neuwahlen könnten Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dazu bewegen, einem Abkommen nicht zuzustimmen.