Verhandlung zum Wahlrecht: Wenn die Linke um die CSU trauern würde
Gemeinsam in Karlsruhe: Gregor Gysi für die Linke und Alexander Dobrindt für die CSU
Fast konnte man meinen, man sitze nicht im Verhandlungssaal des Verfassungsgerichts, sondern im Deutschen Bundestag. So viele Protagonisten des politischen Berlins wie selten waren am Dienstag nach Karlsruhe gereist. Für eine Plenarsitzung waren die Allianzen, die sich dort bildeten, aber zu ungewöhnlich.
Besonders fürsorglich gab sich Gregor Gysi. Der Linken-Politiker trat ans Rednerpult, fuhr es herunter, bedauerte den „demütigenden Akt“, um gleich darauf Größe zu präsentieren: Man stelle sich nur einmal vor, das neue Wahlrecht habe Bestand und die CSU flöge aus dem Bundestag, sagte Gysi. „So viel Trauerarbeit“ könne er in Bayern gar nicht leisten. Auch seine eigene Partei könne es hart treffen, ergänzte er.
Es war der Beginn eines Karlsruher Großverfahrens. An zwei Tagen verhandelt das Verfassungsgericht in dieser Woche über das neue Wahlrecht, das die Ampelkoalition im März vergangenen Jahres beschlossen hat. Sowohl die bayerische Regierung ist vor das Gericht gezogen als auch die Unionsfraktion des Bundestages; hinzu kommen die einstige Linken-Fraktion, die Partei die Linke, die CSU und Verfassungsbeschwerden von mehr als 4000 Bürgern. Sie alle beklagen, SPD, Grüne und FDP hätten einen verfassungswidrigen Systemwechsel vollzogen, weg vom personalisierten hin zu einem reinen Verhältniswahlrecht.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sprach in Karlsruhe von einem „fundamentalen Verstoß gegen die Wahlrechtsgrundsätze unserer Verfassung“. Alexander Dobrindt fand, es gebe gar „keine Wahl“ mehr. Noch vor Beginn der Verhandlung sprach der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag von einer „Ampel-Manipulation“, die dazu führe, dass der Wählerwillen im Parlament nicht mehr berücksichtigt werde.
SPD, Grünen und FDP ging es bei der Gesetzesänderung, der jahrelange Diskussionen vorausgegangen waren, um eine Verkleinerung des Bundestags. Es ist ein Bestreben, das auch CDU und CSU teilen, wie deren Vertreter in Karlsruhe beteuerten. Momentan sitzen 734 Abgeordnete im Bundestag, obwohl es laut altem Wahlgesetz 598 sein sollten. Das neue Wahlrecht erlaubt 630 Abgeordnete.
Am umstrittensten ist die Abschaffung der Grundmandatsklausel
Um zu dieser Zahl zu kommen, soll es künftig weder Überhang- und Ausgleichsmandate geben. Eine Partei soll nur noch so viele Sitze bekommen, wie ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen. Wenn sie über die Wahlkreise mehr Sitze gewinnt, bekommen die Wahlkreissieger mit den „schlechtesten“ Ergebnissen keinen Platz mehr im Parlament. Wer einen Wahlkreis gewinnt, zieht also nicht automatisch in den Bundestag ein, er wird bei der Verteilung nur gegenüber Listenkandidaten bevorzugt. Nicht jeder Wahlkreis wird deshalb künftig im Bundestag vertreten sein. In Ausnahmefällen kam es dazu aber auch nach altem Wahlrecht.
Die Antragsteller meinen, die Reform verstoße unter anderem gegen die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Das gelte schon angesichts der Deckelung durch die Zweitstimmen und der damit verbundenen Aushöhlung der Erststimme. Merz sprach in Karlsruhe von einer „Aufgabe“ des personalisierten Verhältniswahlrechts, die Klagegegner sehen es positiver. Sie halten die Reform für eine „Vollendung des Grundcharakters des Verhältniswahlrechts“. So formulierten es ihre Prozessvertreter, die Staatsrechtler Jelena von Achenbach, Florian Meinel und Christoph Möllers, schon in ihrem Schriftsatz. Die Juristen heben auch hervor, dass solch ein Schwerpunkt auf der Verhältniswahl im Einklang mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts stehe.
Dessen Richter stellten in einer Grundsatzentscheidung von 2012 außerdem klar, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlsystems grundsätzlich frei ist. Solange er die Wahlrechtsgrundsätze achte, etwa die Freiheit und Gleichheit der Wahl, steht dem Gesetzgeber demnach auch offen, ob er die Wahl als Mehrheits- oder Verhältniswahl ausgestaltet. Beide Systeme könnten auch miteinander verbunden werden, so Karlsruhe. Nur widersprüchlich dürfe das Wahlrecht nicht sein.
Eine Stärkung des Verhältniswahlrechts dürfte deshalb für sich genommen noch kein Problem sein. Darauf deuteten am Dienstag auch Wortmeldungen der Richter hin. Abgeordnete sind außerdem Vertreter des ganzen Volkes, sodass ein verwaister Wahlkreis noch kein Repräsentationsdefizit bedeuten muss. Das betonten auch die Prozessvertreter des Bundestages.
Ähnlich äußerte sich der Politikwissenschaftler Frank Decker, der außerdem davor warnte, die Bedeutung von Wahlkreisabgeordneten im Vergleich zu Listenabgeordneten zu überschätzen. Heikler könnte es mit dem auch politisch umstrittensten Aspekt der Reform sein: der Abschaffung der Grundmandatsklausel. SPD, Grüne und FDP entschieden sich erst auf den letzten Metern dafür. Union und Linke bemängeln deshalb in Karlsruhe einen „Überraschungsakt“.
Mehr Stimmen könnten unberücksichtigt bleiben
Die Grundmandatsklausel sah vor, dass eine Partei auch dann in den Bundestag einzieht, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen errungen, aber mindestens drei Direktmandate gewonnen hat. Unter Politikern von Linken und CSU stiftet die Abschaffung der Klausel große Unruhe. Besonders gilt das für die Linke, der sie zuletzt den Wiedereinzug ins Parlament sicherte.
Die CSU bangt ebenfalls um den Wiedereinzug ins Parlament. Bei der vergangenen Bundestagswahl überwand die Partei, die nur in Bayern antritt, die Fünfprozenthürde knapp. Bundesweit erreichte sie 5,2 Prozent der Zweitstimmen. Gleichzeitig gewann die CSU 45 der 46 bayerischen Wahlkreise. Sollte sie die Sperrklausel künftig unterschreiten, würde ihr das nicht weiterhelfen. Die Partei würde nicht mehr in den Bundestag einziehen, die Unionsfraktion erheblich schrumpfen.
Die Sorge ist deshalb sowohl unter CDU- als auch CSU-Politikern groß, die ihr Anliegen in Karlsruhe allzu persönlich aber auch nicht verstanden wissen wollten. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hob hervor, dass es sich um „rein theoretische“ Szenarien handele, die im Übrigen viele Parteien treffen könnten. Gleichzeitig betonte Dobrindt die Bedeutung der Grundmandatsklausel gerade für die CSU, für eine „seit 75 Jahren staatstragende Partei“. Ganz allgemein verkenne die Reform der Ampelkoalition die Bedeutung regionaler Repräsentation, so Herrmann und seine Mitkläger. Sollten Parteien, die nur in einem Bundesland anträten, dort aber die Mehrheit erreichten, nicht mehr im Bundestag repräsentiert werden, verletze dies das Bundesstaatsprinzip.
Das Verfassungsgericht könnte ein anderer Aspekt noch stärker beschäftigen: das Zusammenwirken der Grundmandatsklausel mit der Sperrklausel. Diese führt dazu, dass alle Stimmen wirkungslos bleiben, die an solche Parteien gehen, die unter fünf Prozent bleiben. Die Klausel greift in die Gleichheit der Wahl ein, was das Gericht bislang für gerechtfertigt hielt, etwa um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Bisher wurde die Wirkung der Sperrklausel auch durch die Grundmandatsklausel abgefedert. Gysi sprach in Karlsruhe deshalb von „kommunizierenden Röhren“, der Politikwissenschaftler Thorsten Faas von einem „doppelten Boden“.