«Als Louis Armstrong in Bern spielte, schrieb man vom ‹grunzenden Wilden›»

Der Berner Autor Samuel Mumenthaler hat ein Buch über Jazz geschrieben – und dafür im Spannungsfeld zwischen rassistischen Ressentiments und offener Begeisterung recherchiert.

«als louis armstrong in bern spielte, schrieb man vom ‹grunzenden wilden›»

Bei seinen ersten Auftritten in der Schweiz wurde er von der Presse zerrissen, später vom Publikum verehrt: Louis Armstrong mit einem kleinen Fan 1949 auf Schweizer Tournee.

Herr Mumenthaler, worin liegt der Reiz, ein Buch über eine Epoche zu schreiben, aus der es keine lebenden Zeitzeugen mehr zu befragen gibt?

Ich nahm das auch als Chance wahr. Man hat einen distanzierteren Blick und ist weniger befangen, wenn man nicht mit Leuten spricht, denen man sich dann verpflichtet fühlt. Und ich habe festgestellt, dass es aus dieser Zeit erstaunlich viele Unterlagen gibt. Ich hatte Zugang zu Archiven und Nachlässen.

Wurden die Ihnen alle vorbehaltlos geöffnet?

Grösstenteils schon. Ziemlich zu Beginn meiner Recherchen bin ich an einen Experten geraten, der mir klarmachte, dass er als Kunstmusiker mit einem Buch über Populärmusik nichts zu tun haben wolle.

Sie haben für andere Bücher schon viel Musikgeschichte durchgeackert. War nicht jede Kunst- auch mal Popmusik?

Der Begriff der Kunstmusik impliziert ja auch, dass etwas akzeptiert worden ist als ernst zu nehmende Musik. Heute gibt es so viele Formen von Musik, die gar nicht Kunstmusik sein, sondern bodenständig bleiben wollen. Beim Jazz lief es anders. In den 20er- und 30er-Jahren war er in Europa ein Synonym für Tanzmusik. Und bereits 10 Jahre später gab es die Unterscheidung «schlechter Jazz, guter Jazz». Und die Tanzmusik wurde der ersten Gattung zugerechnet.

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Sie «jazzten», um die Sorgen abzuschütteln: Tanzende im Basin Street Club in Zürich um 1954.

Und warum war der Jazz anfänglich Tanzmusik?

Um Musik zu hören, musste man sie damals entweder spielen oder Tanzveranstaltungen besuchen. Deswegen war Jazz zunächst explizit mit Tanz gleichgesetzt – als Ausdrucksform von Entertainern, die wie wild «jazzten», also den «cakewalk» tanzten. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ging es da tatsächlich auch darum, die Sorgen abzuschütteln.

War denn nicht jede populäre Stilart, die sich etablieren musste, zunächst Tanzmusik?

Der Rock ’n’ Roll und Beat vielleicht schon, aber bereits bei Rockmusik später stand das Konzertante stärker im Vordergrund. An den ersten grossen Rockkonzerten sassen oder lagen die Jugendlichen bekifft am Boden und liessen sich beschallen.

Musik als frontale Bewirtschaftung.

So ähnlich. Ursprünglich wollte ich ja ein Buch über alle populären Stile schreiben, zu denen getanzt wurde und wird. Und irgendwann merkte ich, dass es schon mit dem Jazz genug wird. Herausgekommen ist jetzt so etwas wie ein Prequel zu meinem allerersten Buch über die Beat-Musik.

Zurück in die 30er-Jahre: Eine Schlüsselfigur der Schweizer Szene war der Berner Teddy Stauffer. Warum wurde er so bekannt?

Er war der Swing-König der Schweiz! Und einer der ersten Popstars des Landes. Er schaffte es, etwa als grosser YB-Fan, gleichzeitig seiner Heimatstadt Bern treu zu bleiben und sich daneben zu einem Kosmopoliten zu entwickeln, der sich in seiner zweiten Lebenshälfte in Mexiko mit den amerikanischen Showgrössen vergnügte. Er war ein Abenteurer, die Schweiz wurde ihm schnell mal zu eng…

…in Deutschland war er während der Machtergreifung der Nazis populär. Konnte er sich abgrenzen?

Stauffer hielt es wie viele Musiker: Er hat sich mit den Umständen arrangiert. Billy Toffel, ein Schweizer Jazzer aus Lausanne, der auch zum Ensemble von Stauffer gehörte, beschreibt in seinen Memoiren, wie Stauffers Orchester einmal auf einem Privatball der Nazi-Grösse Hermann Göring spielte. Stauffer war bestimmt kein Kollaborateur, aber er gab ein ambivalentes Bild ab. Die Musiker dieser Zeit wurden oft als funktional bezeichnet, sie hatten zum Tanz aufzuspielen, zu öffentlichen Zwecken, wie etwa Stauffer auch 1936 an den Olympischen Spielen in Berlin, als sich das Nazi-Regime noch weltoffen zu geben versuchte.

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Er war der erste Schweizer Swing-Star: Teddy Stauffer und seine Original Teddies im Film «S’ Margritli und d’Soldate» 1941.

Viele Musikstile sind aus einer Abgrenzung gegen die Elterngeneration heraus entstanden. Wogegen grenzen sich die jungen Jazzer in der Schweiz ab?

Zu Beginn war da noch keine Jugendbewegung, die sich explizit gegen etwas abgrenzte. In den Schweizer Bergkurorten fand sich um den Ersten Weltkrieg eine internationale Klientel ein, die die Jazzmusik und das damit verbundene Lebensgefühl gewissermassen vorlebte. Es war eine Art Abkehr von den Entbehrungen des Krieges, hatte etwas Lebensbejahendes. Man räumte mit der alten Welt auf, bekannte sich mit dieser Musik auch zu lockereren Sitten.

Auffällig war die Präsenz der englischen Sprache, auch die Schweizer Musiker traten plötzlich unter englischen Vornamen auf. Warum?

In den Kurorten musste man natürlich englisch reden, als Kompromisssprache war es dadurch schon etabliert. Im Zweiten Weltkrieg waren die Amerikaner noch präsenter und überall in Europa stationiert.

Und weil die Amerikaner den Krieg gewannen…

…war alles Amerikanische nach dem Zweiten Weltkrieg umso mehr en vogue. Man kaute «Tschwingöm» (chewing gum), war geprägt von den GIs und deren Verständnis von Kultur und Musik. Die Haltung, gegen die man rebellierte, war hier weniger eine der Eltern als mehr diejenige der Geistigen Landesverteidigung, die während des Krieges vorherrschte.

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Verehrung für die afroamerikanischen Musiker aus den USA: Schweizer Jazzfans begrüssen ihr Idol Lionel Hampton.

Wurde in dieser Zeit das positive Amerika-Bild Mitteleuropas begründet, das sich durchs ganze Jahrhundert zieht?

Ja, das setzte sich zu dieser Zeit durch, auch wenn dieses Bild in den 60er-Jahren während des Vietnamkriegs wieder Risse erhielt. In der Zwischenkriegszeit war Jazz in der Schweiz den besseren Schichten vorbehalten, viele Orchester rekrutierten sich aus Gymnasiasten. Danach wurde die Akzeptanz für die Stilart breiter, alles Amerikanische wurde bewundert – und der Jazz war der Soundtrack für diese Bewunderung.

Wie gut waren die frühen Schweizer Jazzmusiker?

Die Schweiz brachte viele technisch gute Musiker hervor. Sie waren gute Notenleser, der Nachwuchs war fleissig. Viele Schweizer spielten in ausländischen Orchestern, zogen in die europäischen Hauptstädte.

Der Schweizer, der sich im Ausland verdingt?

Wenn man so will, war das eine kleine Renaissance des Söldnertums, besonders in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Die hiesige Szene war vielleicht keine bedeutende, sie brachte aber bedeutende Musiker hervor.

Dazu gehörte Hazy Osterwald, Mr. «Kriminaltango». Was verband ihn mit dem 13 Jahre älteren Stauffer?

Beide brachten es aus Bern zu internationaler Berühmtheit. Und an beiden lässt sich ein Stück Mediengeschichte erzählen: Stauffer war der erste Schallplatten-Star, Osterwald der erste Fernsehstar aus der Schweiz.

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Der erste Schweizer TV-Star: Hazy Osterwald (mit Trompete) mit seinem Sextett 1950.

Die Zeit war in Europa auch geprägt von zwei technischen Neuerungen: dem kommerziellen Durchbruch der Schallplatte und dem Radio. Wie beeinflusste das die Musik?

Sie verliehen ihr Schub. Schallplatte und Radio waren Medien, welche die Musik mehr Menschen zugänglich machten, sie standen am Anfang der technisch reproduzierten Musik. Aber es gab Startschwierigkeiten: Die Schallplattenindustrie hat sich anfänglich tatsächlich dagegen gewehrt, dass Platten am Radio gespielt werden! Das hängt mit der damaligen urheberrechtlichen Situation zusammen; die Künstler trugen zunächst noch keinen Nutzen davon, wenn ihre Musik am Radio gespielt wurde. Die meiste Musik, die man am Radio hörte, war live eingespielt.

Eine Sonderrolle kam dem Kopfhörer zu. Warum?

Heute ist er der Inbegriff der Mobilität. Damals war es umgekehrt: Radio konnte man nur via Kopfhörer hören, man war ans Gerät gefesselt, Lautsprecher kamen erst später auf. Radio konnte man also zuerst nur alleine hören, fürs gemeinsame Erlebnis gab es sogenannte Hör-Kabinette.

Geht nicht fast jeder neue Musikstil mit einer technologischen Veränderung einher?

Es gibt schon viele Stile, die sich anhand solcher Neuerungen entwickelten. Die elektrisch verstärkte Musik begünstigte später das Aufkommen der Rockmusik, das Fernsehen die Schlagermusik.

«als louis armstrong in bern spielte, schrieb man vom ‹grunzenden wilden›»

Louis Armstrong wird 1955 am Flughafen in Zürich mit Folklore empfangen, damals schon als gefeierter, etablierter Star.

Jazz war der erste schwarze Musikstil, der in die Schweiz fand. Schlugen ihm auch rassistische Ressentiments entgegen?

Das ist insbesondere aus heutiger Sicht differenziert zu betrachten. Als etwa der legendäre Louis Armstrong 1934 zum ersten Mal in Bern spielte, war in der lokalen Presse die Schreibe von einem «grunzenden Urwaldwilden», der «alle menschliche Würde bewusst lächerlich» mache. Umgekehrt wurde den schwarzen Musikern nicht selten eine Verehrung entgegengebracht, die in Tendenzen mündete, die ungewollt ebenso klischiert waren: Jedem afroamerikanischen Menschen wurde das Rhythmusgefühl für die neue Jazzmusik angedichtet.

Sie hatten für Ihr Buch auch exklusiven Zugang zum Nachlass von Glyn Paque, einem farbigen US-Musiker, der nach dem Krieg in der Schweiz blieb.

Er war musikalisch integriert und beliebt in der Szene. Aber akzeptiert fühlte er sich trotzdem nicht. In seinem Nachlass fand sich ein eigenartiger Zeitungsartikel, in dem stand, dass es in der Schweiz nur einen einzigen schwarzen Bürger gebe. Wer solche Dinge beiseitelegt, muss eine gewisse Isolation verspürt haben.

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Eine Jazzband jammt 1929 auf dem gefrorenen Zürichsee.

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