Forscher zeigen erstmals in einem Klimamodell, dass die Erderwärmung die atlantische Meeresströmung zum Kollaps bringen kann. Die Milliarden-Dollar-Frage lautet: Wann?
Die Simulation der Nasa zeigt warmen Golfstrom (orange), der sich entlang der Küste Floridas bewegt, und die zahlreichen Verwirbelungen, die in Modellen nur ungenau abgebildet werden können.
Als der Katastrophenfilm «The Day After Tomorrow» vor 20 Jahren in die Kinos kam, wurde erstmals in der Öffentlichkeit der Stillstand des Golfstroms durch den Klimawandel breit diskutiert. Der Kollaps verursachte im Film dramaturgisch völlig überzeichnet eine neue Eiszeit.
Der Zusammenbruch des grossen Strömungssystems im Atlantik, bei dem der Golfstrom eine wichtige Rolle spielt, wurde in der Klimaforschung theoretisch bereits in den 1960er-Jahren in einfachen Konzepten durchgespielt und später in anderen Studien bestätigt. Nun haben niederländische Wissenschaftler erstmals in einem hochmodernen Klimamodell festgestellt: Es gibt in diesem gigantischen atlantischen «Förderband», das aus den tropischen Breiten warmes Wasser in den Norden transportiert und Europa ein mildes Klima verschafft, tatsächlich einen Kipppunkt.
Das heisst: Die Meeresströmung, die warmes Wasser vom Süden in den Norden bringt, kann sich verlangsamen und sogar abbrechen. Die Ursache: ein verstärkter Zufluss von Süsswasser in den nördlichen Atlantik durch die Erderwärmung. Zunehmende Regenfälle, die Abschmelzung des grönländischen Eises und Schmelzwasser von Tauenden Gletschern auf den Kontinenten verdünnen den Nordatlantik. Dadurch sinken der Salzgehalt und die Dichte des Meerwassers. Das Wasser wird leichter.
Im schlimmsten Fall wird es deutlich kühler in Europa
Die Folge: Weniger Wasser fliesst in der Tiefe zurück in den Süden. Das wiederum bedeutet, dass auch weniger salzhaltiges Wasser vom Süden in den Norden transportiert wird. Der Motor des «Förderbands», das die Forschenden kurz Amoc (Atlantic meridional overturning circulation) nennen, beginnt zu stottern und stirbt möglicherweise sogar ab.
Die Konsequenzen für das weltweite Klima: Es tritt nicht wie in «The Day After Tomorrow» eine neue Eiszeit in der Nordhalbkugel auf. Aber in Europa würde es im schlimmsten Fall deutlich kühler werden, weil der atlantische Wärmetransport aus dem Süden ausbliebe.
Die Wissenschaftler geben ein Beispiel: Im norwegischen Bergen könnten die Temperaturen im Februar gemäss Modellen alle zehn Jahre um 3,5 Grad sinken, wenn die Meeresströmung den Kipppunkt erreicht hat und sich innert 100 Jahren deutlich verlangsamt. Würde der Wärmetransport vollends gestoppt, gäbe es in Europa je nach Region keine richtig warmen Sommer mehr. In tropischen Regionen würde sich die Regensaison völlig verschieben, die Regenzeit würde eine Trockenzeit werden und umgekehrt.
Der drastische Effekt habe damit zu tun, dass die Fläche des arktischen Meereises wieder massiv anwachse und dabei wieder mehr Sonnenstrahlung in den Weltraum reflektiert werde, schreiben die Forscher. «Bisher konnte man davon ausgehen, dass das Kippverhalten nur ein theoretisches Konzept ist und im gesamten Klimasystem wieder verschwindet», schreiben die niederländischen Forscher im Wissenschaftsmagazin «Science Advances», in dem sie ihre Studie kürzlich veröffentlichten.
Wie nahe ist der Kipppunkt?
Die niederländische Studie ist bereits die zweite innerhalb von sechs Monaten zum Kollaps des atlantischen Strömungssystems. Dänische Forscher hatten im vergangenen Juli Schlagzeilen gemacht, weil sie anhand von statistischen Auswertungen der Oberflächentemperatur des Wassers in Teilen des Golfstromsystems eine besorgniserregende Botschaft verkündeten: Das Golfstromsystem könne zwischen 2025 und 2095 kollabieren, sofern ihre Annahmen korrekt seien.
Zahlreiche Experten und Expertinnen übten jedoch Kritik und stellten die Zuverlässigkeit der Methode infrage. Anders ist es bei der neuen Studie: Unabhängige Forschende attestieren der neuen Untersuchung eine gute Arbeit, relativieren aber dennoch die Resultate: Positiv an der Studie ist, dass die niederländischen Forscher der Universität Utrecht zum ersten Mal ein Klimamodell verwendet haben, das die Wechselwirkungen zwischen Ozean, Atmosphäre und Eis darstellt. Und sie konnten dank des Zugriffs auf den nationalen Supercomputer ihr Modell über Tausende Jahre laufen lassen. Die Rechenzeit betrug mehrere Monate. Zudem haben die Wissenschaftler entdeckt, dass die Messung des Süsswassertransports im Südatlantik als Frühwarnsignal verwendet werden könnte, als Messgrösse, ob sich die Meeresströmungen allmählich verlangsamen.
Satelliten und Meeresbojen messen seit 2004 den Transport des Süsswassers in den tropischen Breiten. Beobachtungen und Modellrechnungen zeigten, so die Forscher, dass sich bereits eine leichte Verlangsamung feststellen lasse. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass sich die atlantischen Meeresströmungen in Richtung Kipppunkt bewegen.
Bei einem Kollaps der atlantischen Meeresströmungen würden die Temperaturen gemäss Modellen im norwegischen Bergen massiv sinken.
Das will Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung nicht in Abrede stellen. «Aber die Milliarden-Dollar-Frage lautet, wie weit dieser Kipppunkt noch entfernt ist», schreibt der deutsche Klimaforscher in einem Blog. Jahrzehnte, Jahrhunderte? Darauf kann die neue Studie keine Antwort geben.
Die Schwächen der Studie
Auch für Nicolas Gruber von der ETH Zürich ist die neue Untersuchung ein wichtiger Beitrag. Man müsse die Ergebnisse ernst nehmen, weil sie aufzeigten, dass das atlantische Strömungssystem doch nicht so stabil sei, wie die Resultate älterer Simulationen bis anhin vermuten liessen. Der Weltklimarat IPCC geht in seinem Weltklimabericht von 2022 davon aus, dass die atlantischen Strömungen mit grosser Wahrscheinlichkeit schwächer werden. Aber wie stark, bleibt unklar.
Auch der Vorschlag, den Süsswasser-Transport als Frühwarnsignal zu verwenden, kann ETH-Forscher Gruber unterstützen. «Die Diskussionen sind aber mit dieser Studie noch lange nicht beigelegt», sagt er. Eine Schwäche der Untersuchung sieht er darin, dass die verwendeten Modelle räumlich zu wenig aufgelöst sind, um sehr wichtige und zentrale Prozesse der Ozeanzirkulation gut abzubilden. Dazu gehören zum Beispiel grossräumige Wasserwirbel, die sich von der Meeresoberfläche bis zum Meeresboden ausdehnen können. «Diese Prozesse sind wichtig für den Transport und die Tiefenwasserbildung», sagt Gruber. Deshalb ist er skeptisch, ob die Aussagen der Modellergebnisse auch stark genug sind.
Zudem lasse sich aus diesen Resultaten kein bevorstehender Kollaps vorhersagen. Der Grund: Der Kipppunkt des Strömungssystems erscheint erst bei einem extremen Zufluss an Süsswasser: Er ist rund 80-mal höher als die aktuelle Schmelzrate des grönländischen Eisschildes. Der britische Glaziologe Jonathan Bamber von der Universität Bristol sagt es so: Die angenommene Süsswassermenge entspreche einem Meeresspiegelanstieg von sechs Zentimetern pro Jahr. Das sei mehr als beim Zusammenbruch des Eisschildes, der Nordamerika während der letzten Eiszeit bedeckte.
In einem Punkt sind sich die Experten allerdings einig: Es braucht dringend mehr Messungen, optimierte Modelle und noch mehr Rechenleistung, um den Transport des Süsswassers in den atlantischen Strömungen zu verstehen. Denn eines weiss man heute: Historische Daten aus Eisbohrkernen zeigen, dass es vor Zehntausenden Jahren Zusammenbrüche des Strömungssystems gab.
Starten Sie jeden Tag informiert in den Tag mit unserem Newsletter Guten Morgen. Melden Sie sich hier an.
News Related-
Der Batzen und das Weggli für Dominik Egli
-
Mini-Grün auf der grünen Suppe
-
Eine Trainerin und ein Arzt kennen die Antwort: Fit werden, ohne zu schwitzen – geht das?
-
Häuser bereits verkauft: Dreijährige Kreuzfahrt abgesagt – Passagiere vor dem Nichts
-
Deutschland versinkt im Schneechaos
-
Von ZHAW gewählt: «Monsterbank» ist das Deutschschweizer Wort des Jahres
-
Frauen und Jugendliche – 33 weitere palästinensische Gefangene frei
-
Jans oder Pult: So stehen die Chancen der SP-Kandidaten
-
Müde und grummelig? Hier kommen 23 lustige Fails für bessere Laune
-
Innerhalb von 24 Stunden: „Wetten, dass..?“-Auftritt von Helene Fischer erreicht Meilenstein
-
So lief das Wochenende für die Schweizer Söldner: Unermüdlicher Xhaka spult Mammutprogramm erfolgreich ab
-
Hans Flatscher löst für Swiss-Ski Dinge, bevor sie ein Problem sind
-
Grenadier-Rekrut bricht auf Marsch zusammen: «Viele dachten während zwei Tagen, ich sei tot»
-
Novum: Frappart leitet Bayerns Heimspiel gegen Kopenhagen