Im Exil in Serbien: Die Russen kommen

im exil in serbien: die russen kommen

Russisches Büro: Die Allzweckfirma für Emigranten aus Russland in der Innenstadt von Novi Sad

Zu Silvester gehört Hering im Pelzmantel, das weiß doch jeder. Aber bei Anastasija und Avdej gab es in diesem Jahr keinen Hering, weder mit noch ohne Mantel. Diese Geschichte handelt davon, warum das so war und was Wladimir Putin damit zu tun hat. Aber jetzt ist es noch zu früh, um davon zu erzählen, denn jetzt ist es halb fünf am Nachmittag. Vielleicht auch schon etwas später, doch auf eine Minute mehr oder weniger kommt es nicht an. Wichtig ist das Schild über der Toreinfahrt zum Haus in der Zmaj-Jovina-Straße Nummer 26 in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, gelegen etwa eineinhalb Stunden südlich von der Grenze zu Ungarn. Auf dem Schild steht: „Russisches Büro. Immobilien, Business, Meldebescheinigungen“.

Ein Pfeil darunter weist den Weg zum Hinterhaus, zweite Etage. Laut Aushang hat das Büro bis um fünf geöffnet. Aber heute nicht. Gerade ist ein junges Paar aus dem Büro gekommen, und die Tür wird von innen abgeschlossen. Eine Klingel gibt es nicht. Also klopfen. Ein bärtiger Mann öffnet die Tür einen Spalt weit und sagt auf Russisch, für heute sei Schluss. Janna sei schon weg und komme heute auch nicht mehr. Außerdem könne sie ohnehin nicht allen helfen. Janna, so viel ist klar, muss die Chefin sein. Aber wann kann man sie sprechen? Das wisse er nicht, sagt der Bärtige. Sie werde morgen vielleicht um neun ins Büro kommen oder um zehn, vielleicht aber auch weder um neun noch um zehn. Tür zu, ein Schlüssel knirscht im Schloss, Stille.

im exil in serbien: die russen kommen

Im Zentrum von Novi Sad, rechts die Marienkirche

Die Geschäfte des russischen Büros in Serbiens zweitgrößter Stadt scheinen gut zu laufen. Um Kunden betteln muss man hier offenbar nicht. Immerhin kann man die Chefin im Netz besuchen. Dort wirbt Janna Ostruchowa damit, dass sie lizenzierte Immobilienmaklerin sei, aber auch viele andere Fragen lösen könne. Arbeitsgenehmigungen, Kontoeröffnungen, Beglaubigungen, Kfz-Registrierungen, Transport und Überführung von Fahrzeugen, Nostrifizierung von Diplomen, „Finanztransaktionen“, alles ist möglich.

Warum Serbien?

Auch eine Aufenthaltserlaubnis kann erworben werden – durch den Kauf einer Immobilie. Dafür verlangt Frau Ostruchowa vier Prozent vom Preis der Immobilie. Andere Dienstleistungen haben je nach Aufwand variable Preise. Immobilien in Novi Sad und Umgebung werden zur Miete oder zum Kauf vermittelt: Wohnungen, Häuser, Zentrum, Randlage, Stadt oder Land.

Unter dem Einfluss der russischen Einwanderung sind die Preise allerdings wie in der Hauptstadt Belgrad auch in Novi Sad nach oben geschnellt. Für eine 80-Quadratmeter-Wohnung unweit vom Donauufer werden 150.000 Euro verlangt, 60 Quadratmeter, näher am Zen­trum, sollen 123.000 Euro kosten. Das sind stolze Summen für die serbische Provinz. Zumindest waren es stolze Summen. Aber das war vor den Russen. Jetzt, wo die Russen da sind und wo immer mehr von ihnen kommen, ist das anders. Auf den Straßen von Novi Sad horcht längst niemand mehr auf, wenn Russisch gesprochen wird. Die Sprache ist für die Stadt so selbstverständlich geworden wie die Donau, die durch sie hindurchfließt.

Auf der Zmaj-Jovina-Straße sitzt das Paar auf der Bank, hinter dem sich zuvor die Tür des russischen Büros so unumstößlich geschlossen hatte. Ob man sie ansprechen dürfe? Gewiss doch, lautet die freundliche Antwort der beiden. Später werden sie ihre Namen aufschreiben: Anastasija, 25 Jahre alt, und Avdej, ein Jahr jünger als seine Frau. Anastasija und Avdej sind keine misstrauischen Menschen. Sie stimmen zu, als sie gefragt werden, ob sie für eine Reportage in einer deutschen Zeitung ein wenig aus ihrem Leben als Russen in Novi Sad erzählen können.

Ihr russisches Lieblingscafé am Rande der Altstadt, das sie als Ort dafür vorgeschlagen haben, ist allerdings bis auf den letzten Platz besetzt. Aber es gibt schließlich noch mehr russische Cafés in der Stadt. Das „Hund mit Hand“ etwa, direkt hinter der Marienkirche. Es wird von Maksim betrieben, der Produzent eines russischen Fernsehsenders war, bevor er nach dem Überfall seines Landes auf die Ukraine mit seinem Lebensgefährten nach Serbien auswanderte. Belgrad war dem Paar zu laut und zu chaotisch, und so landeten sie in Novi Sad.

Russen sind willkommen

Das habe ihn in seiner Beschaulichkeit an die Moskauer Patriarchenteiche erinnert, seine frühere Wohngegend, sagt Maksim. In Novi Sad, einer Stadt von knapp 300.000 Einwohnern, ist das Leben immer schon langsamer und weniger lärmend als in Belgrad gewesen. Die Menschen in der Vojvodina stehen in dem Ruf, langsam und sogar etwas phlegmatisch zu sein. Maksim und sein Partner mochten die Atmosphäre und die Menschen. Sie blieben.

Sie hätten bisher keine schlechten Erfahrungen mit den Menschen in Novi Sad gemacht, berichten Anastasija und Avdej an einem Tisch im ersten Stock des „Hund mit Hand“. Avdej erzählt davon, wie er sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine einen Monat lang nicht aus der gemeinsamen Wohnung in Sankt Petersburg gewagt habe. Er hatte Angst, zum Militär eingezogen zu werden: „Sie haben die Leute an den Ausgängen von U-Bahn-Stationen abgepasst.“

Dann übernimmt Anastasija: „Auswandern wollten wir schon früher, aber der Krieg hat alles beschleunigt.“ Serbien schnitt im Vergleich mit Georgien, Kasachstan, der Türkei und anderen Zielen russischer Emigranten bei ihrer Recherche am besten ab. Der Lebensstandard ist höher als im Kaukasus oder als in Zen­tralasien, und aus der Türkei berichten Russen in jüngster Zeit häufig von Schwierigkeiten bei der Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen. In Serbien dagegen sind Russen weiterhin willkommen – selbst dann, wenn sie gegen Putin sind, wie Anastasija und Avdej und die meisten anderen der neuen russischen Emigranten auf dem Balkan.

Mit dieser Einstellung hatten serbische Nationalisten am Anfang ihre Schwierigkeiten. Dass es Russen geben könnte, die Putin und den russischen Überfall auf die Ukraine ablehnen, passt nicht in ihr Weltbild. Viele russische Emigranten der ersten Welle von Anfang 2022 schildern ähnliche Szenen ihrer Wohnungssuche in Serbien. Darin kommen rührselige serbische Immobilienbesitzer vor, die ihre russischen Mieter am liebsten umarmt hätten (und es manchmal nicht bei dem Wunsch beließen), um ihnen panslawistisch-beseelt zu erzählen, wie sehr sie Putin liebten.

Die sinngemäße Antwort ihrer potentiellen Mieter, dass Putin der Grund sei, der sie aus Russland vertrieben habe, ließ manch einen treuherzigen Serben aus allen Wolken fallen. Russen, die Putin ablehnen? Ist es die Möglichkeit? Dass deswegen Mietverträge nicht zustande kamen, hat man indes noch nicht gehört, denn Seele ist Seele und Geschäft ist Geschäft. Maksim Melnikow berichtet, dass er in seiner Zeit in Novi Sad bisher nur zwei Mal unangenehme Erlebnisse hatte. Einmal sei eine Serbin, eine Russischlehrerin, auf ihn zugekommen und habe ihn als Verräter beschimpft, da er es sich in Serbien gut gehen lasse, statt in der Ukraine zu kämpfen. Doch mit den meisten Einheimischen komme er bestens aus, sagt Maksim.

Anastasija und Avdej sind erst im vergangenen Dezember zu der wachsenden russischen Diaspora in Serbien gestoßen. Es dauerte, bis Avdej seinen Auslandsreisepass bekam und sie das nötige Startkapital für ein neues Leben zusammengespart hatten. Die Entscheidung für Novi Sad fiel dann allerdings leicht. Freunde aus Petersburg waren schon in der Stadt, bei ihnen konnten sie unterkommen am Anfang.

Die Suche nach einer eigenen Unterkunft erwies sich dann allerdings als ziemlich schwierig, denn das Angebot ist knapp geworden – insbesondere für solche Russen, die nicht als hoch bezahlte IT-Fachleute weiterhin ihre Moskauer Mittelklassegehälter beziehen oder mit einem satten Polster an Ersparnissen nach Serbien kommen. Immer mehr finanziell weniger gut gestellte Russen können sich Belgrad oder das nur etwas preiswertere Novi Sad nicht mehr leisten.

Sie ziehen nach Niš, Kragujevac oder in Kleinstädte noch tiefer in der Provinz, irgendwo in Südserbien oder der Šumadija, dem serbischen Herzland südlich der Hauptstadt. Nicht nur Belgrad und Novi Sad, sondern auch viele Orte in der Provinz melden seit 2022 einen Anstieg der Immobilienpreise um gut dreißig Prozent. Avdej hat es in Chatgruppen auf Telegram verfolgt: „Russen gibt es inzwischen in fast jedem Dorf in Serbien.“

Land der Sehnsucht ist die USA

Wie viele es sind, lässt sich schwer sagen. Nach Angaben des serbischen Innenministeriums meldeten allein in den acht Monaten zwischen Februar und Oktober 2022 etwa 140.000 russische Staatsbürger einen Wohnsitz in Serbien an. Inzwischen sollen es mehr als 200.000 sein, so berichten es zumindest serbische Medien. Umgerechnet auf eine Gesamtbevölkerung von kaum sieben Millionen Einwohnern, entspräche das einer Zuwanderung von mehr als zweieinhalb Millionen Menschen in Deutschland, und das in weniger als zwei Jahren.

Ob die neuen Russen wirklich alle in Serbien geblieben sind, ist unklar, doch die anekdotische Evidenz in Novi Sad bestätigt die hohen Zahlen allemal. Auf den Straßen, in Bussen, Cafés und Geschäften oder im Schnellzug nach Belgrad: überall hört man Russisch. Es besteht kein Zweifel: Die Russen kommen nicht. Sie sind schon da.

Anastasija und Avdej haben nach schwieriger Suche eine Zweizimmerwohnung für 400 Dollar im Monat gefunden. Dort leben sie mit Jack, ihrem Kater Jack, den sie aus Russland mitgebracht haben. In einem Zimmer wollen sie eine Werkstatt einrichten, denn sie glauben, von dem Verkauf selbstgetöpferter Tassen und Teller ihren Lebensunterhalt in Serbien bestreiten zu können.

Damit wollen sie sich über Wasser halten, bis die nächste Station ihrer Auswanderung ansteht. Denn anders als viele andere Russen, die in Serbien bleiben wollen, hegen Anastasija und Avdej den Traum, eines Tages in die USA auszuwandern. Das ist noch ein weiter Weg, zumal sie keine Fremdsprache sprechen, doch das Paar glaubt fest daran.

Bis es so weit ist, lassen sie sich auf Serbien ein. Die Sprache wird dabei kaum eine große Hürde sein, denn wer Russisch spricht, kann Serbisch rasch lernen. Das kyrillische Alphabet unterscheidet sich im Serbischen nur in einer Handvoll Buchstaben vom russischen Kyrillisch. Nur vor falschen Freunden in der Lexik muss man sich in Acht nehmen – vor Wörtern, die ähnlich klingen, aber etwas vollkommen anderes bedeuten. „Iskusstvo“ etwa bedeutet „Kunst“ auf Russisch, aber „Erfahrung“ auf Serbisch. „Ponos“ ist der „Stolz“ auf Serbisch, aber „Durchfall“ auf Russisch. Und nach einem Streichholz fragt man in Serbien besser nicht auf Russisch, denn das kann Ärger geben.

Auch der Hering wird knapp

Auch mit Heringen ist es schwierig. Zu Silvester wollten Anastasija und Avdej eigentlich Heringssalat machen, auf russische Art, so wie es zwischen Wladiwostok und Petersburg üblich ist zum Jahreswechsel. Dazu werden Heringe, gekochte Kartoffeln, Möhren und Eier in Würfel geschnitten, hinzu kommen Rote Bete und rohe Zwiebeln. Auf eine Schicht Heringswürfel kommt eine mit Zwiebeln und eine weitere mit Kartoffeln, dann folgen Möhren und Eier. Ganz oben bildet ein rosafarbener Pelz aus Roter Bete und Mayonnaise den Abschluss.

Aber für Anastassija und ihren Mann wurde nichts daraus, denn es gibt ein nicht zu bestreitendes Missverhältnis zwischen Russen und Heringen in Novi Sad. In den nördlichen Meeren gibt es viele Heringe und kaum Russen, in Novi Sad dagegen ist es genau umgekehrt – viele Russen, wenige Heringe. „Es gab vor Silvester in den Geschäften lange Schlangen, an denen Russen um Hering anstanden“, erinnert sich Anastasija. Die Nachfrage überstieg das Angebot eindeutig. Sie habe sich dann gar nicht erst angestellt.

So endete das Jahr für Anastasija und Avdej ohne Hering im Pelz. Es sei ohnehin keine rechte Silvesterstimmung aufgekommen, so ganz ohne Kälte und Schnee, kommentiert Avdej den Klimawandelwinter am südlichen Rand der Pannonischen Tiefebene. Vor dem „Hund mit Hand“ fallen Regentropfen auf das Pflaster. In Petersburg würde es jetzt schneien. Aber Petersburg ist ein Leben weit weg.

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