Uraufführung in der Elbphilharmonie: Wenn der Kontrabass Sphärenklänge singt
Das Philharmonische Staatsorchester der Hansestadt in Aktion.
Beim 9. Philharmonischen Konzert im Rahmen des Internationalen Musikfests Hamburg brachte das Philharmonische Staatsorchester der Hansestadt ein neues Auftragswerk des exilrussischen Komponisten Vladimir Tarnopolski zu Gehör, in dem unsere kumulativen Krisenerfahrungen einen eindringlichen Widerhall finden. Der Musiker hatte das monumentale Tripelkonzert für die ungewöhnlichen Soloinstrumente Bratsche, Bassklarinette und Kontrabass noch zu Beginn der Pandemie gemeinsam mit dem unlängst verstorbenen Musikwissenschaftler und Dramaturgen Dieter Rexroth konzipiert, den Maestro Nagano im Programmheft als seinen lieben Freund anspricht, der stets daran erinnert habe, dass Kunst nie der Banalität verfallen oder den Status quo hinnehmen dürfe. Das Konzert war daher dem Andenken Rexroths gewidmet.
Tarnopolski, der in der Ukraine aufgewachsen ist, aber in Moskau lebte und wirkte, hat seit den frühen Neunzigerjahren die neue russische Musik geprägt und entscheidend dazu beigetragen, dass die internationale Avantgarde in Russland bekannt und populär ist, übrigens bis heute. Die kulturelle Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe der in Deutschland nach 1945 geähnelt, Institutionen und Qualitätskriterien hätten neu begründet werden müssen, sagt er im Gespräch mit der F.A.Z. Ein bedeutender Moskauer Musikstratege verglich noch unlängst Tarnopolskis Verdienste um das Heranziehen von Komponisten, innovativen Instrumentalisten und Musikwissenschaftlern mit der Lebensleistung mehrerer Menschen. Dank seines Einsatzes kamen europäische und insbesondere deutschsprachige Starkomponisten wie Helmut Lachenmann, Mark Andre, Nikolaus Huber, Enno Poppe nach Moskau und erklärten Studenten ihr Schaffen.
Solisten im Extremmodus: Bratscher Nils Mönkemeier (links), Kontrabassist Edicson Ruiz (Mitte) und Boglárka Pesce mit der Bassklarinette.
Doch als Russland vor mehr als zwei Jahren seinen großen Krieg gegen die Ukraine begann, reiste der Komponist mit seiner Frau und seinem Sohn nach München aus, wo wichtige Werke von ihm in Auftrag gegeben und uraufgeführt worden waren. Es habe ihn ungeheuer berührt, wie deutsche Freunde ihn unterstützten, sagt Tarnopolski. Zugleich sei seine zwei Jahre währende erfolglose Kommunikation mit der Bürokratie des sich zu humanistischen Werten bekennenden Landes hinsichtlich einer befristeten Aufenthaltserlaubnis eines Vergleichs mit Kafkas „Schloss“ würdig. Er sei zwischen zwei Visa-Regelungen geraten und vor die Alternative gestellt worden, entweder wieder auszureisen oder sich in ein Lager für Asylsuchende einweisen zu lassen. Die Lebensumbrüche hätten ihm allerdings auch eine poetische Dramaturgie für sein Stück vorgegeben, das den Titel „Im Dunkel vor der Dämmerung“ trägt. Das Trio der schon aufgrund der niedrigen Register wenig durchsetzungsstarken Soloinstrumente sei wie drei Menschen, die in ungehörte Klangwelten aufbrächen, wo Prüfungen sie erwarteten.
Vladimir Tarnopolski
Ein expressives Instrumentaldrama
Tarnopolski nutzt erweiterte Intonationsmöglichkeiten der Orchestersprache für sein expressives, in raumgreifenden Spannungsbögen zu wuchtigen Kulminationen sich aufschichtendes Instrumentaldrama. Die erhöht hinter dem Orchester postierten, elektronisch verstärkten Solisten stellen dadurch wie unter dem Vergrößerungsglas immer auch einen individuell-prekären Klangraum dem Tutti-Geschehen gegenüber. Ihre knappen melodischen Gesten werden in den tiefen Stimmen beantwortet, während geräuschhaft umspielte, sich in Mikrointervallen verschiebende Liege- oder Repetitionstöne zunächst eine strömende Zeitwahrnehmung erzeugen. Doch nach einer Kadenz, in der die Soloinstrumente in körperlose Flageolett-Sphären entschweben und der Kontrabass von Edicson Ruiz Spitzentöne einer Geige überflügelt, gliedern Streicherpizzicati die Partitur, bringen sie polymetrisch-jazzig zum Tanzen, steigern sich zum überwältigenden Maschinensound, der die agilen Solisten überdeckt. Nagano führt seine vorzüglichen Musiker mit sparsamen Gesten durchs kontrastreiche Klanggeschehen und macht es zur organischen Erzählung. Leider erlebten die Zuschauer des ersten Konzerts am Sonntag das ergreifende Finale nicht, weil infolge eines Feueralarms, den eine defekte Geschirrspülmaschine ausgelöst hatte, das gesamte Haus plötzlich evakuiert werden musste. Dafür wurde das Werk am Montag in der ausverkauften Elbphilharmonie vom Publikum bejubelt.
Ludwig van Beethovens dritte Symphonie, die „Eroica“, klang dann nach der Pause wie ein Plädoyer für Mut und Tapferkeit angesichts von Schicksalsschlägen. Nagano ließ das kristallklar artikulierende Orchester den feurigen Kopfsatz auch aus fahlen Seitengedanken heraus modellieren, entwickelte aus dem Trauermarsch des zweiten Satzes wie in buddhistischer Konsequenz tänzerische Kraftentfaltung und ließ in den Fugato-Passagen spüren, dass Heldentum auch strukturiert sein muss.