Umstrittenes Lager für Bootsflüchtlinge in Albanien: Die «Festung Europa» bleibt eine Baustelle
Auf dem Militärstützpunkt von Gjader beginnen die Bauarbeiten am italienischen Auffanglager für Bootsmigranten. Adnan Beci / AFP / Keystone
Kühe streifen neben den abrissreifen Militärkasernen umher. Es riecht nach Maulbeeren und nach Feigen, die hier am Rand des Flusses Drin wachsen. Auf dem Boden sind Stacheldrahtrollen ausgebreitet. «Militärgebiet» steht warnend auf einem Schild.
Die Zugangsstrasse zum Militärstützpunkt ist gesperrt. Doch nicht wegen der Tunnel im Berg, in denen ab Ende der sechziger Jahre, während der Diktatur des Stalinisten Enver Hoxha, bis zu 50 Kampfflugzeuge aus China Platz fanden. Hier im Dorf Gjader, knapp zwei Stunden Autofahrt nördlich der albanischen Hauptstadt Tirana und unweit der Adria, wird ein umstrittenes Lager für Bootsflüchtlinge erbaut. Menschen sollen hierhin, die von der italienischen Küstenwache auf dem Weg nach Italien aufgegriffen und stattdessen nach Albanien verschifft würden.
Es handelt sich um ein für Europa neuartiges Unterfangen, das dem britischen Rwanda- oder dem australischen Nauru-Modell vergleichbar wäre: Man lagert das Asylverfahren auf einen anderen Staat aus und hofft, dass weniger Migranten kommen, wenn sie keine Chance haben, in ihrem eigentlichen Zielland, in diesem Fall eben Italien, zu landen.
Die italienische Regierung will Bootsflüchtlinge, die nach Italien überzusetzen versuchen und auf See aufgegriffen werden, künftig in Migrantenlager in Albanien unterbringen und dort über ein allfälliges Asyl entscheiden. Fabrizio Villa / Getty
Für das Migrationszentrum in Gjader stehen auf dem Gelände des Militärstützpunkts etwa 5000 Quadratmeter zur Verfügung. Der Erdboden wurde bereits mit grossen Baggern umgegraben und mit Walzen planiert. Soldaten stehen Wache, schwarze Adler auf rotem Grund zieren die Abzeichen auf ihren Oberarmen.
Erstaunlicher Vertrag
Doch sonst deutet noch nichts auf ein Lager hin. Es sind weder Baracken noch Bauarbeiter zu sehen. Bisher wurde erst der Plan für das Lager in einem Protokoll zwischen der albanischen und der italienischen Regierung aufgezeichnet. Demnach sollen hier mehrere langgezogene Gebäude entstehen. Das ursprüngliche Eröffnungsdatum Ende Mai gilt als völlig unrealistisch. In Gjader munkelt man, dass es wohl bis Oktober dauern wird, bis die ersten Migranten hierhergebracht werden können.
Sie sollen in Shengjin, dem nahe gelegenen Hafen, an Land gehen. Die Stadt mit weissen Appartement- und Hotelgebäuden wird im Sommer von ausländischen Gästen wegen ihrer Strände besucht. Alles ist auf Tourismus ausgerichtet. Selbst der Frachthafen wird manchmal von Jachten zum Schutz aufgesucht, wenn der Wind in der Adria zu stark wird.
Die albanische Adriastadt Shengjin ;wird üblicherweise von ausländischen Touristen wegen ihrer Strände besucht. Nun sollen Migranten hergebracht werden. Atdhe Mulla / Bloomberg
Der Hafenmeister Sander Marashi, der vor einer grossen Landkarte aus dem 19. Jahrhundert sitzt, weiss nicht viel über das Migrantenprojekt. «3680 Quadratmeter Hafengelände sind jetzt komplett unter der Kontrolle der Italiener», erzählt er, als wäre es die normalste Sache der Welt. Im Hafen errichte ein albanisches Bauunternehmen, das von der italienischen Botschaft in Tirana ausgesucht wurde, in einem abgesperrten Areal ein Aufnahmezentrum. Dort sollen Namen, Herkunft und Gesundheitszustand der Migranten aufgenommen werden, bevor man sie dann wenige Stunden später nach Gjader bringt.
«Wir dürfen in das Gelände nur hinein, wenn es die italienischen Behörden genehmigen», erklärt Marashi. Nicht nur dies ist am Vertrag zwischen Italien und Albanien merkwürdig. Albanien gibt Staatsgebiet und seine Hoheit ab, ohne offiziell etwas dafür zu bekommen. Die Opposition klagte vor dem Verfassungsgericht – ohne Erfolg.
Im Hafenzentrum und im Lager gilt ausschliesslich italienisches Recht. Die italienischen Beamten dürfen in Albanien auch nicht festgenommen werden, wenn sie das Gesetz brechen. Nur im Fall eines Brandes dürfen die albanischen Behörden einschreiten. Aus Griechenland weiss man, dass Wut und Frust in Migrantenlagern mitunter dazu führen, dass die Insassen Feuer legen.
Laut dem Protokoll verpflichten sich die italienischen Behörden, «die erforderlichen Massnahmen» zu ergreifen, um zu verhindern, dass die Migranten eine «unbefugte Ausreise in das restliche Hoheitsgebiet der Republik Albanien» versuchen. In der Praxis bedeutet dies, dass italienische Sicherheitsleute die Lager mit hochgerüsteten Anlagen abriegeln werden.
Die Regierung in Rom denkt offenbar, dass weniger Migranten nach Italien kommen werden, wenn diese befürchten müssen, in eine Art Gefängnis nach Albanien gebracht zu werden. Ob diese Rechnung aufgeht, ist fraglich. Denn pro Jahr gelangen etwa 150 000 Migranten nach Italien, aber bloss 3000 pro Monat könnten nach Gjader gebracht werden.
Rechtsexperten kritisieren, dass in Europa erstmals ein völlig geschlossenes Lager für Migranten errichtet wird, was den Menschenrechten widerspreche. Italien plant zwar, bei jedem Asylbewerber innerhalb eines Monats zu entscheiden, ob er nach Italien einreisen darf oder abgeschoben wird. Doch die Erfahrungen mit Migrantenlagern etwa in Griechenland zeigen, dass dies völlig unrealistisch ist und die Asylverfahren sich vielmehr in die Länge ziehen. Die Migranten könnten daher Monate oder sogar Jahre ihrer Freiheit beraubt werden.
Jordan Daci, ein Rechtsprofessor in Tirana, hält den Vertrag zwischen Albanien und Italien nicht nur für menschenrechts-, sondern auch für verfassungswidrig. Er glaubt, der albanische Verfassungsgerichtshof habe nur deshalb zugestimmt, weil die Richter zu abhängig und zu wenig mutig seien, um sich gegen die Regierung zu stellen. «Der Vertrag schafft ein rechtliches Niemandsland», kritisiert er. «Niemand weiss, wer am Ende die rechtliche Zuständigkeit für die Migranten hat. Keiner verfügt über abschliessende Autorität, und es kann sein, dass nicht einmal die albanische Ombudsfrau Zugang zum Lager haben wird.»
Mark Doda, der am Rande von Gjader gerade seine Ziegen ausführt, überlegt eine Weile, bis er sich zum geplanten Lager äussert: «Es ist eine albanische Tradition, alle Fremden freundlich aufzunehmen. Deshalb ist auch das Lager hier willkommen», sagt der 57-Jährige mit dem braungebrannten Gesicht. Abgesehen davon hätten die Italiener auch ihre Tore aufgemacht, als Anfang der neunziger Jahre Tausende Albaner über das Meer flüchteten. «Wir haben mit Italien freundschaftliche Beziehungen. Mein Sohn und meine Tochter leben dort», erzählt er. Die Albaner könnten bei den Wahlen darüber abstimmen, ob sie das Lager gutheissen oder nicht.
Andere in dem Dorf mit 2000 katholischen Einwohnern äussern Missfallen, dass sie nicht gefragt wurden. Mariana Ndoci, die im Café in der Dorfmitte hinter dem Tresen steht, sagt: «Die Regierung hätte uns im Detail erklären sollen, was sie vorhat. Wir hätten darüber in einem Referendum abstimmen sollen. Doch die Leute haben hier nicht mehr die Macht, der Regierung zu widersprechen, weil so viele Albaner von hier fortgegangen sind.»
Die 40-jährige Frau spricht einen wichtigen Punkt an: In Nordalbanien sind die Dörfer halb leer. Die Mehrzahl der jungen Menschen ist nach Grossbritannien oder in die EU weggezogen. Sie sehen in dem Land auf absehbare Zeit keine Zukunft für sich. Staatliche Strukturen sind von der herrschenden Sozialistischen Partei unterwandert, nicht Leistung, sondern das Parteibuch zählt. Der Regierungschef herrscht autoritär über die Öffentlichkeit, der Einfluss der Mafia scheint überhandzunehmen, und die Opposition ist wenig glaubhaft.
Albaner verstehen Migranten
An eine mögliche EU-Mitgliedschaft glauben viele schon lange nicht mehr. Die Albaner stimmen mit den Füssen ab. Aber weil Albaner, die im Ausland leben, nur wählen dürfen, wenn sie dafür nach Hause reisen, können sie in ihrer Heimat kaum etwas verändern. Dass der Regierungschef Edi Rama mit seiner italienischen Amtskollegin Giorgia Meloni die Migrantenlager vereinbarte, bestärkt ein Gefühl, dass das kleine Albanien vom grossen Italien, das das Land von 1939 bis 1943 besetzte, weiter beherrscht wird.
Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni empfängt in Rom ihren ;albanischen Amtskollegen Edi Rama. Remo Casilli / Reuters
Die Italiener griffen im April 1939 auch Shengjin an, wohin jetzt die Migranten gebracht werden sollen. Damals wurde ein Statthalter installiert, die albanischen Politiker waren nur Marionetten. Heute ist es nur ein winziger Teil des albanischen Territoriums, der abgezwackt und unter italienische Kontrolle gestellt wird. Dennoch weckt das bei manchen Albanern Erinnerungen an die Zeiten des Faschismus.
Die Wirtin Ndoci spricht von einem Sozialexperiment, dem man in Gjader ausgesetzt werde. Natürlich wäre es gut, wenn die Dorfbewohner Arbeit im Lager bekämen, im Sicherheitsbereich, in der Küche, der Krankenabteilung oder der Verwaltung. Doch was, wenn die Insassen im Lager psychisch krank würden, weil sie so lange eingesperrt werden? «Was ist, wenn das Ganze ausser Kontrolle gerät?», fragt sie. «Wenn man Leute so lange gefangen hält, dann werden sie aggressiv. Sie werden versuchen, dorthin zu kommen, wo sie eigentlich hinwollen, nämlich in die EU!»
So wie Ndoci denken viele in Gjader. Schliesslich hat auch die Albaner nichts aufhalten können, als sie in den neunziger Jahren vor Armut und Anarchie flüchteten. Auch heute nehmen viele den gefährlichen Weg in Gummibooten über den Ärmelkanal. Gerade die Albaner können also gut abschätzen, wie sich die Migranten verhalten werden. Die Herausforderungen, die ein Leben in Albanien mit sich bringt, sind denen der Migranten viel ähnlicher als denen der meisten anderen Europäer.