Ukrainische Front unter Druck – wo die Russen jetzt vorrücken
Ein russischer T72-Panzer feuert auf ukrainische Stellungen.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert bereits mehr als 26 Monate. Längst hat er sich zu einem mörderischen Abnützungskrieg entwickelt, in dem beide Seiten schwere Verluste an Menschen und Material verzeichnen müssen. Für die ukrainische Armee wird die Lage zusehends kritisch, besonders da Munition und Soldaten knapp werden.
Die russischen Truppen setzen ihr Übergewicht an Mann und Material ein, um vornehmlich im östlichen Frontabschnitt die Ukrainer schrittweise zurückzudrängen. Für die Ukraine geht es nun darum, operativ bedeutende russische Vorstösse zu verhindern, bis die nun wieder anlaufenden amerikanischen Waffen- und Munitionslieferungen ihre materielle Unterlegenheit verringern.
Russische Vorstösse
Seit der Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Awdijiwka im Februar ist es den russischen Truppen gelungen, immer wieder kleinere Geländegewinne im Donbass zu erzielen. Dieses langsame Vorrücken hat sich in den vergangenen Tagen, begleitet von massiven Luftangriffen, fortgesetzt.
Otscheretyne
Nördlich der Ortschaft Otscheretyne, die etwa 15 Kilometer nordwestlich von Awdijiwka liegt, konnten die russischen Angreifer vordringen, wie das Institute for the Study of War (ISW) meldet. Am Donnerstag bestätigte der ukrainische Armeesprecher Nasar Woloschyn, dass sich Teile Otscheretynes bereits unter russischer Kontrolle befänden.
Die 98-jährige Lidia Lomikovska flüchtete letzte Woche zu Fuss aus Otscheretyne und legte dabei zehn Kilometer allein zurück.
Laut Woloschyn hat die Ukraine ihre Truppen in diesem Abschnitt mit Reserven verstärkt, um die Front zu stabilisieren und Gegenangriffe durchführen zu können. Der russisch besetzte Ortsteil werde mit Artillerie beschossen. Die härtesten Kämpfe seien derzeit in den Frontabschnitten in Richtung Pokrowsk und Kurachowe im Gange. Die russischen Truppen hätten zwar taktische Erfolge erzielt, jedoch bisher keinen operativen Vorteil erlangt.
Perwomajske
Auch weiter südlich gelang es den russischen Streitkräften offenbar, Geländegewinne zu erzielen. Nach Angaben des ISW, das sich auf geolokalisierte Videoaufnahmen stützt, rückten die Invasoren südlich von Perwomajske vor. Diese Ortschaft befindet sich etwa 15 Kilometer südwestlich von Awdijiwka.
Bei Otscheretyne und Perwomajske westlich von Awdijiwka konnten die russischen Truppen vorrücken.
Tschassiw Jar
Hart umkämpft ist die Kleinstadt Tschassiw Jar, ein Nachbarort von Bachmut, der am Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal liegt. Die russische Armeeführung hat in den letzten Wochen bis zu 25’000 Soldaten dorthin verlegt. Den Invasoren soll es laut der ukrainischen Open-Source-Organisation Frontelligence Insight gelungen sein, den Kanal südlich der Stadt zu überqueren. Sie hätten dort indes keinen dauerhaften Brückenkopf errichten können.
Derzeit werde Tschassiw Jar noch vom ukrainischen Militär kontrolliert, erklärte der ukrainische Armeesprecher Woloschyn, der zugleich einräumte: «Es ist schwierig, die Kämpfe gehen weiter, der Feind hört nicht auf zu versuchen, die Stadt einzunehmen.» Der Vize-Chef des ukrainischen Geheimdienstes, Wadjim Sibitskyj, sagte in einem Interview mit dem «Economist», die Einnahme von Tschassiw Jar durch russische Truppen sei «lediglich eine Frage der Zeit».
Tschassiw Jar ist mittlerweile völlig zerstört.
Hinter Tschassiw Jar, das auf einem Hügel liegt, verlaufen ukrainische Versorgungswege, die wichtig für die Verteidigung der nördlich und südlich davon gelegenen Frontabschnitte in den Oblasten Luhansk und Donezk sind. Sollte es den Russen gelingen, die Stadt einzunehmen, könnten sie die Versorgung der ukrainischen Truppen in diesen Frontabschnitten behindern oder gar abschneiden. Zudem wäre dann der Weg frei für den Vormarsch auf die starken Stellungen von Slowjansk und Kramatorsk.
Tschassiw Jar westlich von Bachmut ist hart umkämpft. Westlich der Stadt verlaufen wichtige ukrainische Versorgungslinien.
Sumy-Charkiw
Gemäss dem ukrainischen Armeechef Oleksandr Syrskyj verstärkt die russische Armeeführung die Truppen auch im nördlichen Abschnitt der östlichen Front und intensiviert die Angriffe in der Region Sumy. Entsprechend würden auch ukrainische Einheiten dorthin verlegt, sagte Syrskyj. Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kyrylo Budanow erwartet, dass Russland Ende Mai eine neue Offensive starten wird, die sich gegen die Oblaste Sumy und Charkiw richtet. Nach Angaben der Polizei in Sumy wurden innerhalb der vergangenen 24 Stunden 28 Ortschaften in der Oblast beschossen.
Die Ukraine errichtet Panzersperren in der Region Charkiw.
Russische und ukrainische Verluste
Laut Angaben des ukrainischen Generalstabs vom 3. Mai hat die russische Armee innerhalb von 24 Stunden mehr als 1200 Soldaten verloren. Die Zahlen können nicht unabhängig überprüft werden. Zudem hätten die russischen Truppen unter anderem 18 Panzer, 28 gepanzerte Kampffahrzeuge, 36 Artilleriestücke und Mörser verloren.
Wrack eines Panzers in der Nähe von Donezk.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu wiederum bezifferte die ukrainischen Verluste seit Jahresbeginn auf mehr als 111’000 Mann sowie mehr als 21’000 Einheiten an Fahrzeugen und militärischem Gerät, wie die Nachrichtenagentur SDA berichtete. Besonders im April seien die ukrainischen Verluste hoch gewesen; täglich seien mehr als 1000 Soldaten gefallen oder schwer verwundet worden. Schoigu sagte überdies, es sei gelungen, Gebiete im Umfang von 547 Quadratkilometern zu erobern – das ist etwas mehr als die Fläche des Kantons Basel-Landschaft. Auch diese Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Ukrainische Drohnenangriffe auf Ölraffinerien
Die Ukraine, die derzeit aufgrund mangelnder westlicher Unterstützung mit Munitionsmangel zu kämpfen hat, setzte erneut ihre eigens für Angriffe weit im russischen Hinterland weiterentwickelten Drohnen ein. In der Nacht auf Mittwoch schlugen nach inoffiziellen Angaben des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR Drohnen in einer Ölraffinerie in der russischen Stadt Rjasan ein, 190 Kilometer südöstlich von Moskau. Zugleich wurde eine ölverarbeitende Anlage im russischen Gebiet Woronesch angegriffen.
Die Serie ukrainischer Drohnenangriffe auf ölverarbeitende Anlagen in Russland dauert schon seit Wochen an. Dieses Öldepot in der Nähe von Brjansk wurde bereits im Januar getroffen.
Die Serie von Anschlägen auf russische Ölraffinerien, die seit Wochen andauert, dürfte das Ziel verfolgen, die Treibstoffversorgung der russischen Armee zu stören. Laut der Nachrichtenagentur Reuters waren bis Ende März rund 14 Prozent der russischen Ölraffineriekapazitäten durch ukrainische Drohnenangriffe ausgeschaltet. Die ukrainischen Angriffe stiessen auf amerikanische Kritik. Washington befürchtet Auswirkungen auf den Weltölpreis, was wiederum den Wahlkampf in den USA zuungunsten von Amtsinhaber Joe Biden beeinflussen könnte.
Kommt jetzt der grosse russische Durchbruch?
Russland wird wohl in den nächsten Tagen den Druck auf die ukrainischen Verteidigungslinien noch erhöhen: Präsident Wladimir Putin möchte vermutlich am 9. Mai, dem «Tag des Sieges», oder spätestens Mitte Mai, wenn er zu Besuch in Peking weilt, einen militärischen Erfolg vorzuweisen haben. Die Chancen auf weitere russische Geländegewinne sind durchaus vorhanden: Das Institute for the Study of War (ISW) befürchtet, dass Russland in den kommenden Wochen wahrscheinlich erhebliche taktische Gewinne erzielen kann.
Bevor sich die ukrainischen Bestände an Waffen und Munition durch die angekündigte amerikanische Unterstützung wieder erholen, werde es noch sechs bis acht Wochen dauern, sagte Andras Racz, Sicherheits- und Russlandexperte der Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin, dem «Hamburger Abendblatt». Die Lage sei besonders westlich von Bachmut heikel. «Wenn es dort zu einem Durchbruch kommt, könnte die russische Armee in offenem Gelände weiter vorstossen, dort wird die Verteidigung extrem schwer», erklärte Racz.
Gleichwohl dürfte es der russischen Armee nicht leicht fallen, in der nächsten Zeit einen operativen Durchbruch zu erzielen. Die Ukraine hat ihre Verteidigungslinien stark ausgebaut. Zudem fehlen auch den russischen Truppen nach Einschätzung westlicher Militärexperten die Ressourcen für eine grosse Offensive – aktuell seien die Bestände an Munition und Panzern zu gering dafür. Und da der Angreifer gemäss einer militärischen Faustregel dem Verteidiger im Verhältnis 3:1 überlegen sein sollte, verfügt die russische Armee auch über zu wenig Soldaten.