Zeit des großen Aufbuchs: Florian Wackers Roman „Zebras im Schnee“

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Historische Motive aufgreifen, um sie leicht zu verändern: Friedrich Seidenstücker fotografierte diese Zebras in den Dreißigerjahren; im Roman macht die fiktive Protagonistin Ella ein ganz ähnliches Bild.

Es ist ein Buch wie bestellt. Im nächsten Jahr wird das Hundert-Jahr-Jubiläum der Architektur- und Designbewegung gefeiert, die als Neues Frankfurt bekannt geworden ist. Nachdem Ernst May 1925 Planungsdezernent der Stadt geworden war und sich mit einer eingeschworenen Truppe an die Reformarbeit machte, wurde Frankfurt rasch zum Zentrum einer Avantgarde, die auf mehr zielte als auf eine sozialpolitisch motivierte Baukunst, nämlich darauf, die Lebenswelt des neuen Menschen zu gestalten.

Florian Wackers Roman „Zebras im Schnee“ ist eine Art Auftakt zu den Feierlichkeiten. Er handelt von der Zeit des großen Aufbruchs, in der Frankfurt auch sonst ein kulturell vibrierender Ort ist, der Begabungen anzieht; die Kunstgewerbeschule steht in Blüte, das Bühnenleben ebenfalls. Das Buch handelt aber auch vom Ende dieser Zeit, vom Aufkommen des Nationalsozialismus und dessen Konsequenzen für die Protagonisten des Neuen Frankfurt, und zwar gerade auch für die, deren Name kein Lexikon nennt.

zeit des großen aufbuchs: florian wackers roman „zebras im schnee“

Florian Wacker: „Zebras im Schnee“. Roman.

Zwei fiktive Frauen treffen auf historische Größen

Für diese stehen die Fotografin Ella Burmeister und ihre enge Freundin Franziska Goldblum, Studentin der Malerei. Sie bewegen sich in den Kreisen der Studenten mit ihren Selbstzweifeln und Liebeleien, aber auch in der Welt der Etablierten. Dort treffen die beiden fiktiven Figuren auf historische Größen, auf die Architekten Martin Elsaesser und Margarete Schütte-Lihotzky etwa und auf die die Fotografen Ilse Bing und Paul Wolff. Max Beckmann taucht am Rande auf, es gibt Kostümfeste mit Paul Hindemith bei den Fotografinnen Carry und Nini Hess. Die Malerin Ottilie Roederstein wird zur moralischen und finanziellen Stütze Ellas.

„Zebras im Schnee“ baut auf einer mehr als soliden Grundlage auf. Die Frankfurter Museen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Biographien vieler Akteure und zahlreiche thematische Facetten des Neuen Frankfurt in Ausstellungen beleuchtet. Die Kataloge liefern dem Autor Wacker das Material quasi frei Haus. Den fast überreich vorhandenen Stoff beherrscht er souverän, die Atmosphäre der Zwanzigerjahre mit ihren neuen gesellschaftlichen Freiheiten und Spannungen beschwört er gekonnt herauf. Anfangs wirken Ella und Franziska zwar noch wie Symbolfiguren, die die Kräfte der Zeit verkörpern und in einer Art Reigen in Beziehung zur Prominenz treten sollen, doch mit der Zeit gewinnen sie immer mehr an psychologischer Plausibilität.

Entscheidung für die bürgerliche Existenz

So, wenn die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende und dem Alkohol zuneigende Ella in einer Mischung aus Stärke und Anlehnungsbedürftigkeit, aus Unabhängigkeitsstreben und Konventionalität porträtiert wird, während die aus wohlhabendem jüdischen Haus kommende und mit den Kommunisten sympathisierende Franziska mutiger, aber auch verletzlicher agiert. Ella steht für die Möglichkeiten, die das vergleichsweise junge Medium der Fotografie Frauen bot, sich eine eigene Existenz aufzubauen und bei entsprechendem Talent rasch zu den Besten des Fachs aufzusteigen. In ihr klingen biographische Motive von Marta Hoepffner und Ella Bergmann-Michel an.

Die Zeitläufte sorgen dafür, dass die beiden Frauen, die mehr als Freundschaft miteinander verbindet, sich aus den Augen verlieren, als Franziska aus Deutschland fliehen muss. Und dafür, dass beide ihre Künstlerlaufbahn aufgeben und sich für eine bürgerliche Familienexistenz entscheiden – sie sind Beispiele für die wahlweise verlorene oder vergessene Generation jener Künstler, deren Karriere durch die Nazis unterbrochen wurde und die in der Nachkriegszeit nicht mehr Fuß fassen konnten.

Ideale Wahl für „Frankfurt liest ein Buch“

Auf einer zweiten Handlungsebene beginnt Ende der Neunzigerjahre Richard Kugelman, ein Sohn von Franziska, einst Architekt und jetzt Professor in New York, mit Recherchen zu der ihm unbekannten Ella Burmeister. Der Zufallsfund einer ihrer Fotografien hat in ihm die Hoffnung geweckt, mehr Material in Frankfurt zu entdecken, um damit eine Ausstellung zur 75-Jahr-Feier des Neuen Frankfurt bestreiten zu können. Die Erwartung, etwas über ihm verborgen gebliebene Seiten seiner Mutter zu erfahren, die auf dem fraglichen Foto Ellas von einer Kundgebung der Kommunisten zu erkennen ist, spielt hinein.

Die beiden Erzählstränge werden meisterhaft miteinander verschränkt. Die Recherchen, die Richard in Frankfurt anstellt, ähneln der Arbeit eines Detektivs – ein probates Mittel, um zusätzliche Spannung in die Handlung zu bringen; denkbar, dass Wacker hier von seiner Erfahrung als Krimiautor profitiert (im vergangenen Jahr hat er mit „Die Spur der Aale“ sein Debüt in diesem Genre gegeben).

Der Forscherehrgeiz Richards, der allerdings zwischendurch von einem ihm bald mit sanften homoerotischen Untertönen verbundenen Kollegen angestachelt werden muss, wirkt animierend auf den Leser, nun seinerseits den Ursprüngen Wacker’scher Motive in der Geschichte des Neuen Frankfurt nachzugehen. Das macht das Buch zur idealen Wahl für das Lesefest „Frankfurt liest ein Buch“, das am Montag beginnt und in „Zebras im Schnee“ zum ersten Mal nicht eine Wiederentdeckung, sondern eine Neuerscheinung vorstellt.

Das Buch hat durchaus das Zeug, über die Saison hinaus zu bleiben – etwa als Lektüre an Frankfurter Schulen, anhand derer sich Lektionen in der Stadthistorie mit Einblicken in literarische Erzähltechniken verbinden lassen, Bildungsschnitzeljagden inklusive (der Name der Krautrockband „Effet de réel“, in der Ellas Enkel Matthias einst spielte, ist ein hübscher Hinweis auf die Bildsprache seiner Großmutter wie die Poetologie ihres Schöpfers).

Gegen Ende drückt Wacker so sehr auf die Tränendrüse, dass sich das Buch wie die Bewerbung auf eine Verfilmung liest. Das ist nicht unbedingt als Kritik zu verstehen. Dass das Lektorat dem Autor einige schiefe Bilder in seiner sonst dem Gegenstand angemessen sachlich gehaltenen Sprache hat durchgehen lassen, dagegen schon. Und ganz gewiss spricht das verwaschene Druckbild dem hohen typographischen Anspruch des Neuen Frankfurt hohn.

Florian Wacker: „Zebras im Schnee“. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2024. 384 S., geb., 24,– €.

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