Wie der „Correctiv“-Bericht der AfD hilft

wie der „correctiv“-bericht der afd hilft

Jetzt getrennt: Alice Weidel und und ihr Referent Roland Hartwig im Oktober 2023 bei der Pressekonferenz nach den Wahlen in Bayern und Hessen

Irgendwo in Berlin gibt es einen bedauernswerten Briefträger, der jeden Tag 130 bis 150 Mitgliedsanträge in die Bundesgeschäftsstelle der AfD schleppen muss. Anfang Januar gab es auch schon viele Anträge, aber seit „Correctiv“ über Pläne berichtete, Deutschen mit Migrationshintergrund die Staatsbürgerschaft zu entziehen, ist die Zahl noch mal angestiegen. 8000 Mitgliedsanträge liegen unbearbeitet herum, die Partei stellt nun weitere Leute ein, um das abzuarbeiten. 8000 Mitglieder zahlen jeder 120 Euro im Jahr Beitrag, das ist fast eine Million Euro. Hinzu kommen fast 450.000 Euro, um welche die Parteienfinanzierung dadurch steigt.

Es sind gute Wochen für die AfD. Zum Jahreswechsel hatte sie rund 40.000 Mitglieder, in der Parteiführung glauben sie, dass es bis Ende des Jahres 50.000 bis 60.000 sein werden. Viele begründen ihren Eintritt damit, der Partei sei unrecht getan worden, erst mit dem angeblich verfälschenden „Correctiv“-Bericht, dann mit einer Verbotsdebatte und schließlich mit Demonstrationen. Sie beklagten Unrecht und DDR-Verhältnisse, heißt es in der Partei. Bei früheren AfD-Skandalen trat allerdings noch eine andere Sorte in die Partei ein: Jene, die das, was der Partei vorgeworfen wurde, gar nicht leugneten, sondern guthießen. So erklärt sich auch, warum die AfD mit jeder Eintrittswelle radikaler wurde.

Für den momentanen Zuwachs ist ein Mann allein verantwortlich: Roland Hartwig, bis vor Kurzem Mitarbeiter der Parteivorsitzenden Alice Weidel. Wegen seiner Anwesenheit konnten die Gespräche über „Remigration“ im Potsdamer Landhaus Adlon der AfD-Führung zugerechnet werden. Erst durch ihn bekam der Fall seine Brisanz, provozierte Empörung und schließlich Tausende Mitgliedsanträge. Wäre die AfD eine Partei, die ihren Erfolg einer ausgefuchsten Strategie zu verdanken hat, müsste Hartwig ein Parteiabzeichen bekommen, mindestens aber ein Lob. Stattdessen wurde er entlassen.

Kubitschek beklagt „Altparteienverhalten“

Hartwig hatte das nicht erwartet. Er sollte dem Bundesvorstand am Montag vergangener Woche vortragen, was passiert war, und bekam den Ratschlag, etwas Demut zu zeigen, wie die F.A.Z. erfuhr. Hartwig aber war der Meinung, nichts falsch gemacht zu haben. Das sahen manche im Bundesvorstand anders. Schließlich war Hartwig mal Chefjurist des Bayer-Konzerns gewesen und hatte bei der AfD die Arbeitsgemeinschaft Verfassungsschutz geleitet, deren Aufgabe es war, eine Beobachtung der Partei zu verhindern. In dieser Funktion hatte Hartwig seinen Parteifreunden jahrelang in den Ohren gelegen, zu Extremisten bitte Abstand zu wahren. Er hatte Schulungen organisiert, wie Funktionäre mühsam lernen konnten, weniger Zitate zu produzieren, die später im Verfassungsschutzbericht stehen.

Dass ausgerechnet dieser Hartwig nun als Mitarbeiter von Weidel mit Rechtsextremen zusammensaß und damit Großdemonstrationen gegen die Partei und eine Verbotsdebatte auslöste, wurde als Fehler begriffen. Dass bei diesem Treffen auch noch über verschleierte Parteispenden gesprochen worden sein sollte, machte manchen geradezu wütend. Noch einen Spendenskandal kann die AfD nicht gebrauchen. Es wurde laut. Der Ton wurde salopp bis schimpfend. Nach der Vorstandssitzung wurde gesagt, Hartwigs Arbeitsvertrag sei „in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst“.

Das konnte als Schuldeingeständnis verstanden werden, was die Rechtsextremisten im AfD-Umfeld empörte: „Weidels Entscheidung ist Altparteienverhalten und hat dem Gegner Munition geliefert“, schrieb der neurechte Publizist Götz Kubitschek. Am Dienstag trat Weidel vor die Presse und verstärkte die Verwirrung noch. Sie sprach von einem „der größten ungeheuerlichsten Medien- und Politikskandale der Bundesrepublik Deutschland“, weil die Vorwürfe von „Correctiv“ allesamt falsch und konstruiert seien. Wenn das so wäre, welchen Grund sollte es dann gegeben haben, Hartwig zu entlassen? Weidel nannte keinen. Wie die F.A.Z. erfuhr, wurde Hartwig aber eine Stelle in der Parteiverwaltung angeboten, die er ablehnte. War seine Bestrafung doch nur Show?

Eine Normalisierung im Kopf der Wähler

Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, trat am Sonntag in der ARD auf und erklärte, die Entlassung Hartwigs habe mit dem „Correctiv“-Bericht „nichts“ zu tun. Es habe „vorher schon Probleme gegeben“ in der „Kommunikation“ zwischen Weidel und Hartwig, womit er sich innerhalb eines Satzes selbst widersprach. Denn dann war das Treffen im Landhaus Adlon doch ein „Problem“ gewesen. Dann sagte er: „Wir sind für Migration.“ Und verbesserte sich schnell: „Remigration“. Eine schlüssige Kommunikation gab es nicht.

In früheren Fällen war der AfD eine absichtsvolle Strategie unterstellt worden, wenn ihre Vertreter provozierten und sich danach unsicher zeigten, ob sie bei ihrer Position bleiben wollten. Als „Zwei Schritte vor, einen zurück“ wurde das beschrieben. Die Unterstellung lautete, dass die AfD daran arbeite, die Öffentlichkeit an Grenzüberschreitungen zu gewöhnen. Ein früherer ranghoher AfD-Funktionär glaubt das in diesem Fall nicht: „Die wurschteln sich durch. Ich würde keine tiefere Strategie dahinter vermuten“, sagte er. Auch amtierende Funktionäre zeigten sich auf Anfrage ratlos, warum Weidel so gehandelt haben könnte.

Einer kann aber die vielen Mitgliedsanträge erklären. Es ist eine Variation des „Zwei Schritte vor, einen zurück“-Arguments. Der Funktionär, der nicht genannt werden will, sagte: Wenn die Partei Fehler mache, in der Öffentlichkeit über diese Fehler aber in überzogener Weise gesprochen werde, dann hätten manche das Gefühl, die Partei sei weniger schlimm als ihr Ruf. Es sei eben doch keine „Wannseekonferenz“, sie sei eben doch keine „Nazipartei“. Die Normalisierung entsteht hier im Kopf der Wähler: Sie gehen zwei Schritte vor, weil sie überzogene Anschuldigungen hören, halten die Partei dann für vergleichsweise entlastet, machen einen Schritt zurück und merken nicht, dass sie nun woanders stehen. So leisten ausgerechnet jene einen Beitrag zur Mitgliederschwemme der AfD, die besonders schrill vor der Partei warnen wollten.

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