Übung „National Guardian“: Wie die Bundeswehr den Aufmarsch trainiert
Festnahme eines Eindringlings: Die Obergefreite und ihre Kameraden von der Heimatschutzkompanie Südhessen haben während der Übung einen Unbekannten gestellt.
Die Lage ist nach ein paar Minuten bereinigt. Die Obergefreite und ihre drei Kameraden haben den Eindringling festgenommen. Nach dem Alarm hat es nur einige Augenblicke gedauert, bis sie ihn am Rande der Hessenhalle an einer Böschung mit ihren Sturmgewehren und Handfeuerwaffen im Anschlag gestellt und zu Boden gebracht haben. Der Mann wird durchsucht, Messer und andere Waffen werden sichergestellt. Nur wenig später wird der Unbekannte von den Soldaten der Polizei übergeben.
Im Einsatz: Brigadegeneral Bernd Stöckmann, Kommandeur des Landeskommando Hessen
Obergefreite Nadine – alle Bundeswehr-Soldaten geben an diesem Samstagvormittag in Alsfeld nur ihre Vornamen preis – gehört zur Heimatschutzkompanie Südhessen. Die Vierzigjährige aus Marburg ist eine von 130 Reservisten, die an der Stadthalle am Rande der Fachwerkstadt im Vogelsbergkreis an der Übung „National Guardian“ teilnehmen.
Wichtiger Partner: Michael Enriquez, Sergeant First Class bei der 66th Military Intelligence Brigade der US Army
Ihre Aufgabe ist es, das „Convoy Support Center“, das das Landeskommando Hessen der Bundeswehr auf dem Gelände der Hessenhalle eingerichtet hat, zu sichern. Nadine, die im zivilen Leben als Sozialpädagogin in einer Schule für psychisch kranke Kinder arbeitet, ist seit Mittwoch im Einsatz. „Sehr spannend“ findet sie das Zusammenspiel der Bundeswehr-Einheiten mit den zivilen Kräften, die an der Übung teilnehmen. „Wir haben hier viel gelernt.“
Beitrag zum Großmanöver
Das „Convoy Support Center“ ist ein wichtiger hessischer Beitrag zu einem internationalen Großmanöver, in dem fast ein halbes Jahr lang bis zu 90.000 Soldaten aus allen NATO-Staaten den Ernstfall trainieren – einen russischen Angriff an der Ostflanke des Bündnisses. „Steadfast Defender“ heißt das Manöver, das sich aus vielen einzelnen Teilübungen zusammensetzt. Eine davon ist die deutsche Übungsserie „Quadriga“.
Dabei probt die Bundeswehr mit ihren Landstreitkräften den Bündnisfall – von der Alarmierung der ersten Truppenteile im Januar bis zur großen Abschlussübung im Mai in Litauen. Wiederum Teil von „Quadriga“ ist „National Guardian“. Bei dieser Übung wird der Aufmarsch, also die Verlegung, von Truppen in den Osten trainiert. In allen Teilen Deutschlands wird dabei eingeübt, wie zum Beispiel Munitions- und Materiallager, Häfen, Verladebahnhöfe, Brücken und militärische Umschlagpunkte genutzt und gesichert werden. Das „Convoy Support Center“ in Alsfeld ist dabei so etwas wie eine Raststätte für durchreisende Truppen.
„Hessen ist ein wichtiges Transitland“, sagt Brigadegeneral Bernd Stöckmann, der Befehlshaber des Landeskommandos. „Deutschland ist nicht Frontstaat, sondern Drehscheibe.“ Wenn Truppen und Geräte vom Westen des Kontinents in den Osten verlegt werden müssten, zum Beispiel amerikanische Einheiten über die großen Seehäfen in den Niederlanden oder den Luftwaffenstützpunkt in Ramstein, dann führe praktisch kein Weg an Hessen vorbei. Die Pläne der NATO sehen vor, dass im Ernstfall bis zu 800.000 Soldaten Tausenden Fahrzeugen an die Ostflanke des Bündnisses gebracht werden müssen – viele davon durch Hessen.
Hessen ist Vorreiter
Brigadegeneral Stöckmann ist am Samstag nach Alsfeld gekommen, um zu sehen, ob das „Convoy Support Center“ funktioniert – und um das Konzept zu präsentieren. Ein paar Dutzend Landräte, Bürgermeister, Landtagsabgeordnete, Staatssekretäre, Vertreter von Bezirksregierungen, Polizei, Feuerwehr, des Technischen Hilfswerks (THW), Reservisten und Journalisten werden über das Gelände und durch die Halle geführt und mit den Abläufen vertraut gemacht.
Das Konvoi-Zentrum in der Hessenhalle ist das erste, in dem die meisten Arbeiten von Zivilisten erledigt werden. Nur die Führung und die Sicherung des „Support Centers“ liegen in den Händen von Soldaten, alle anderen Leistungen hat das Landeskommando zivil ausgeschrieben: von der Fahrzeugreparatur über das Catering und die Unterbringung bis zum Arzt, der sich um kranke oder verletzte Soldaten kümmert. Damit sind die Hessen Vorreiter, ihr „Support Center“ in Alsfeld könnte als Beispiel für alle anderen Bundesländer dienen.
Der Grund ist einfach: Das Landeskommando selbst hat nicht die Kapazitäten, einen solchen Rastposten alleine zu betreiben. Zum einen besteht es nur aus rund 110 Berufssoldaten, weil es bisher vor allem als Bindeglied für die zivil-militärische Zusammenarbeit mit der Landesregierung und zivilen Behörden und Organisationen im Katastrophenfall diente. Zum anderen könnte die Bundeswehr im Kriegsfall auch gar kein Personal für den Betrieb solcher Konvoi-Zentren abstellen – die Soldaten würden anderswo gebraucht, im Zweifelsfall an der Front.
Lob von den Amerikanern
Michael Enriquez und seine Kameraden stehen an ihren Fahrzeugen hinter der Hessenhalle. Sie haben die Festnahme des unbekannten Eindringlings beobachtet. „Good job“, sagt der Sergeant First Class. Er gehört zur 66th Military Intelligence Brigade der US Army in Wiesbaden und ist einer von gut 30 Amerikanern, die an der Übung in Alsfeld teilnehmen. Gemeinsam mit Kraftfahrern vom Theater Logistics Support Center in Kaiserslautern, die mit ihren großen Trucks normalerweise Ausrüstung und Material Richtung Ukraine bringen, ist die Wiesbadener Einheit am Freitag mit mehr als einem Dutzend Humvees und Lastwagen als Marschkolonne in den Vogelsbergkreis gekommen.
Ebenso wie ein Konvoi des Bataillons Elektronische Kampfführung 932 aus Frankenberg/Eder und je eine Kolonne des THW und der Feuerwehr mit jeweils 20 Fahrzeugen und 40 Einsatzkräften dienen die Amerikaner den Soldaten und Zivilisten im „Support Center“ während der Übung als „Kunden“ – im Ernstfall würden innerhalb von Wochen wahrscheinlich Tausende von ihnen in Alsfeld einen Stopp einlegen und dort betreut und versorgt werden müssen.
Für Brigadegeneral Stöckmann und das Landeskommando ist das „Support Center“ in Alsfeld nur der Anfang. Allein in Hessen würden im Verteidigungsfall viele solcher Rastpunkte benötigt. Geplant sind deshalb „Support Center“ für jeden Landkreis an einer relevanten Autobahn.
Mit dem Auftakt in der Hessenhalle ist der Kommandeur am Samstag zufrieden. „Wir müssen an vielen kleinen Schrauben noch drehen“, sagt er. Aber insgesamt habe das Zusammenspiel der militärischen Führung, der Reservisten und der zivilen Kräfte sehr gut funktioniert. So könnte Alsfeld und seine Hessenhalle am Ende tatsächlich zur Blaupause werden.