TV-Kritik: Michael Kretschmer bei Caren Miosga
Michael Kretschmer ist zu Gast bei Caren Miosga.
Die Nachrichten sind voll mit Berichten über den Angriff auf den sächsischen Europawahlkandidaten Matthias Ecke, der am späten Freitagabend von vier Jugendlichen beim Aufhängen seiner Wahlplakate brutal zusammengeschlagen wurde. Der SPD-Politiker Ecke liegt mit einem gebrochenen Jochbein und Hämatomen im Gesicht im Krankenhaus. Der Vergleich mit Weimar wird gezogen. Die Rede ist von SA-Schlägertrupp-Manier. Inzwischen hat sich ein bisher nicht weiter qualifizierter Siebzehnjähriger gestellt, und dreitausend Menschen in Dresden sind gegen Gewalt auf die Straße gegangen. Die Frage ist: Was offenbaren diese Schläge ins Gesicht eines Politikers?
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), seit 2017 erfolgreich im Amt, findet gleich zu Beginn der Sendung gewichtige Worte: Die Uhr stehe „fünf vor zwölf“, Deutschland sei kurz davor, seine demokratischen Grundfesten ins Rutschen geraten zu lassen. Dafür macht er vor allem die immer fahrlässigere Ausdrucksform und die Übernahme des Schmittschen Freund-Feind-Schemas verantwortlich. Wo früher die Rede von „politischen Gegnern“ war, werde heute in Kreisen der AfD und ihrer Kameradschaften von „Feinden“ gesprochen. Dort werde die derzeitige bundesrepublikanische Demokratie verächtlich gemacht und leichtfertig mit DDR-Verhältnissen verglichen.
Miosgas Gäste: der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin eines „Demokratie stärken“-Projekts der Hertie-Stiftung
Dabei lebe Demokratie doch von der Beteiligung und von Gegenargumenten. „Ich habe keine Feinde in den demokratischen Parteien“, beteuert Kretschmer und betont, wie oft er seinen politischen Gegnern tagtäglich zur Begrüßung die Hände reiche. Unerwartet poetisch klingt dann auch seine Wahlempfehlung an diesem Abend: „Wählt Menschen, die ein Lächeln haben, wählt gute Menschen“.
AfD wird selbst Opfer von Gewalt
Im Angesicht von einer Bevölkerung, die der AfD zu 35 Prozent und damit zum Triumphtitel der stärksten Partei verhelfen könnte, wirkt dieser Satz vielleicht allzu sentimental. Und doch trifft er den Kern dessen, was offenbar gerade zur Disposition steht: nämlich die Vorstellung, dass der politische Schlagabtausch ein rhetorischer bleiben muss. Teile der AfD und vor allem ihrer Anhängerschaft scheinen dieses Grundverständnis nicht mehr zu teilen – das belegen die Übergriffe auf Spitzenpolitiker insbesondere der Grünen in den letzten Wochen. Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass Politiker eben jener AfD selbst am zweithäufigsten Opfer von verbaler und physischer Gewalt werden. Und ebenfalls gehört zur Wahrheit, dass sich der selbst aus Sachsen stammende Chef der Bundespartei Tino Chrupalla am Samstag auf der Internet-Plattform X vom Angriff eindeutig distanzierte: „Physische Angriffe gegen Politiker aller Parteien verurteilen wir zutiefst. Wahlkämpfe müssen inhaltlich hart und konstruktiv, aber ohne Gewalt geführt werden. Ich wünsche Herrn Ecke viel Kraft und rasche Genesung.“
Allerdings gehört ebenfalls zur Wahrheit, dass vom sächsischen AfD-Chef Jörg Urban die Verurteilung des Vorfalls nur zum Anlass genommen wurde, die SPD zu fragen, „inwieweit ihre ständige Hetze gegen politisch Andersdenkende zu solchen Eskalationen beiträgt“.
Das klingt gefährlich nah an dem, was Kretschmer aus den von ihm schon länger scharf kritisierten sozialen Netzwerken und Kurznachrichtendiensten zitiert, nämlich den verheerenden Ausruf: „Ihr seid doch selbst schuld!“ Diesem Grundverständnis begegne man, so Kretschmer, in vielen rechtspopulistischen Foren, die immer stärker von Rechtsextremen unterwandert würden. Eine extrem aggressive Grundstimmung in Teilen der Gesellschaft breche sich dort ungehindert Bahn.
Und tatsächlich können sich die AfD-Aufrufe zum „Jagen“ und „Fertigmachen“ der „Altparteien“ einer Mitverantwortung für jene aufgeheizte Atmosphäre, in der ein Siebzehnjähriger einen SPD-Politiker brutal zusammenschlägt, nicht entziehen.
Kretschmer bezeichnet Ukrainekrieg als „Riesenverbrechen“
Dass Moderatorin Miosga versucht, Kretschmers eigene Worte ebenfalls auf die Waage zu legen und für zu leichtfertig zu befinden, ist als journalistische Taktik verständlich, wirkt aber im Vergleich zum vorher Gehörten doch etwas unredlich. Genauso wie ihr Versuch, den sächsischen Ministerpräsidenten erneut als Putin-Versteher zu enttarnen. Ja, Kretschmer vertritt in der Kriegslösungsfrage eine Minderheitenmeinung in der Union. Ja, seine Haltung zur Beendigung des Ukrainekriegs („diplomatische Allianz“) scheint kurzsichtig, vielleicht sogar naiv.
Aber was er nicht ist, ist ein Schuldleugner. Er wiederholt, was er auch an anderer Stelle schon öfter gesagt hat: Der russische Angriffskrieg sei ein „Riesenverbrechen“, aber um weiteres Blutvergießen zu verhindern, müsse eine „Perspektive des Möglichen, des Machbaren“ eingenommen werden. Daran, dass diese Perspektive nur dann einen Sinn hätte, wenn sie auch von den beiden Parteien, also sowohl von der kriegsführenden, russischen, als auch von der sich verteidigenden ukrainischen Seite eingenommen würde, wird ihn wenig später zu Recht der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk erinnern.
Und doch: Aus Kretschmer wird kein Putin-Anhänger, auch wenn sich über seine ablehnende Haltung zu Waffenexporten und Aufrüstung des ukrainischen Militärs heftig streiten lässt. „Was sind denn die Kriegsziele dieser Bundesregierung?“, fragt der Ministerpräsident die Moderatorin rhetorisch – und suggeriert damit, dass es keine gäbe. Dabei lässt der Bundeskanzler schon seit längerem als Ziel verlauten: „Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren“ und aus optimistischerer, grüner Regierungsecke heißt es sogar: „sie muss ihn gewinnen“.
Rechter Sprech rutscht in die Mitte
Was sein eigenes konkretes Ziel für die anstehende Landtagswahl in Sachsen ist, wird der Ministerpräsident an diesem Abend nicht gefragt. Wird er am Ende eine Minderheitsregierung führen müssen, wenn neben seiner CDU nur AfD und BSW in den Landtag gewählt werden?
Der nun hinzugezogene Historiker Kowalczuk erinnert in seiner gewohnt brüsken Art an eine Begegnung vor 25 Jahren zwischen CDUlern aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung und Helmut Kohl, der sich besorgt über den Zustand der Demokratie im Osten gezeigt habe, weil die SPD zu schwach werde. So eine Sorge für das Wohlergehen des politischen Konkurrenten wünscht er sich auch heute vom Ministerpräsidenten, dem er nebenbei vorwirft, den Rechtsextremismus in seinem Bundesland kleinzureden und die Sprache der Rechtsextremen zu übernehmen. „Nicht die Gesellschaft rutscht nach rechts, sondern der rechte Sprech rutscht in die Mitte“.
Das sei eine Frechheit, kontert Kretschmer mit gekonnt gezügelter Aufregung, seine Verurteilung der Politik dieser Bundesregierung in Sachen Migration, Energiewende und Agrarpolitik sei in der Schärfe angebracht und notwendig. Denn, wer sich hier zurückhalte, der bereite der AfD den Nährboden.
Fehleinschätzung, ruft der Analytiker dem Politiker zu – die harten Transformationserfahrungen im Osten vor dem Hintergrund der SED-Diktatur habe vielen Menschen keine Zeit gelassen, „die Demokratie zu lernen“, daher seien heute 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung in den östlichen Bundesländern „gar nicht ansprechbar“ für Fragen der demokratischen Entscheidungsfindung.
Hang zum Rechtspopulismus
Ganz so pauschal abwertend will das Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin eines „Demokratie stärken“- Projekts der Hertie-Stiftung, nicht formulieren. Allerdings gibt auch sie der CDU eine Mitschuld an der mangelhaften politischen Bildung innerhalb der sächsischen Bevölkerung. Gerade bei den unter 25-Jährigen zeige sich ein besonders starker Hang zum Rechtspopulismus. Wobei sich natürlich die Frage stellt, ob mehr Gemeinschaftskundeunterricht und größere „Nazi raus“-Sticker auf Lehrerledertaschen wirklich die Grundstimmung innerhalb großer Teile der Bevölkerung verändern können.
„Schule ist nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft“, ruft Kretschmer und fügt etwas leiser hinzu: „Gegen Tiktok kommen wir nicht an.“ Was aber von einem Spitzenpolitiker wie ihm durchaus erwartet werden könnte, wäre beispielsweise die Verurteilung jener Symbolik, die bei den von Kretschmer explizit als „demokratisch“ geadelten Bauernprotesten zu sehen war: Die Galgen und aufgehängten Stiefel, die nach wie vor das Bild vieler Dörfer auf dem Land bestimmen, sind keine guten Omen für die Umgangsformen bei der politischen Verhandlung. Wer solche drastischen Gewaltmotive willentlich übersieht, der widerspricht dem eigenen Aufruf zu guter Menschlichkeit.
Und doch: Michael Kretschmer zeigt sich an diesem Abend in sehr guter Form. Sein besonderes rhetorisches Talent, das sich anders als bei vielen seiner Parteigenossen nicht in erster Linie durch die Unterrichtung von Coaches, sondern durch die Begegnung mit vielen Menschen in seinem Land gebildet hat, wirkt überzeugend, mitunter sogar mitreißend. Es kommt naturgemäß die Vorschusssympathie für jenen „last man standing“ hinzu, der gegen einen offenbar durch keinen noch so großen Skandal kleiner zu kriegenden Gegner kämpft.
Man muss sich – gerade im Westen – immer wieder vor Augen führen, was für Verhältnisse im Osten drohen. Mit was für Stimmverteilungen wir zu rechnen haben. Welche Schreckbilder uns noch bleiben. Es geht nicht darum, einen mächtigen Ministerpräsidenten vor allzu scharfer Kritik in Schutz zu nehmen. Aber mitunter ist es gut, wenn Außenstehende neben aller politischen Differenzmarkierung auch einmal Respekt vor der Leistung eines in Verantwortung stehenden Politikers äußern. Das geschieht in dieser Runde an diesem Abend mehrmals. Deshalb ist es ein guter gewesen.