300 Jahre Immanuel Kant: Wider die Selbstverkleinerung des Geistes

300 jahre immanuel kant: wider die selbstverkleinerung des geistes

Eine Statue von Immanuel Kant vor der Universität Kaliningrad.

Es gibt Revolutionen, die vollziehen sich ohne Ankündigung, ohne Blutvergießen und ohne öffentliches Aufgeregtsein. Der Revolutionär weiß nicht einmal, dass er einer ist. Er schaut nicht in die Zukunft und bringt doch, ohne Absicht, etwas vollkommen Neues hervor. Er lebt auch nicht in Paris, London oder Moskau, wo man sich allenfalls Revolutionen vorstellen kann. Sondern er lebt unter dem Namen Immanuel Kant als Professor der Philosophie in Königsberg, das er zeit seines Lebens nicht verlassen wird.

Dort führt er ein kommodes Leben. Die Königsberger stellen die Uhr nach ihm, so regelmäßig ist es. Jahrelang schreibt er dort über die Erdumdrehung, die Theorie des Himmels, die Theorie der Winde und die Theorie des Feuers sowie darüber, was man damals von Erdbeben wusste. Später publizierte er Abhandlungen über das Schöne im Unterschied zum Erhabenen, über die Krankheiten des Kopfes und über die Träumereien der Esoteriker seiner Tage. Seine erste Arbeit, die auch heute noch als philosophisch bezeichnet würde, galt den Voraussetzungen für eine optimistische Einstellung zur Welt. Sie erschien 1759. Das ganz Europa erschütternde Erdbeben von Lissabon lag da gerade erst vier Jahre zurück, und er war fünfunddreißig Jahre alt.

300 jahre immanuel kant: wider die selbstverkleinerung des geistes

Inspirierte Kant mit seinen Schriften: Jean-Jacques Rousseau

Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich gerade zum dreihundertsten Mal jährt, war dieser Revolutionär. Im fortgeschrittenen Alter legte er mit der „Kritik der reinen Vernunft“ 1781, der „Kritik der praktischen Vernunft“ 1788 und der „Kritik der Urteilskraft“ 1790 drei Bücher vor, die alles änderten. Es konnte danach nicht mehr so gedacht werden wie zuvor. Die Auffassungen von Gott und der Moral, von der Kindererziehung, dem Schönen und den Naturwissenschaft gerieten ins Wanken. Fast nichts blieb von den Gedanken der Philosophie Kants unberührt.

300 jahre immanuel kant: wider die selbstverkleinerung des geistes

Kupferstich von Immanuel Kant

Welche Gedanken waren das? Kant war zunächst Naturphilosoph, und er nahm Anteil am Aufstieg der neuzeitlichen Physik. Zugleich beschäftigte ihn das Problem, dass die Naturwissenschaften keine Antwort auf eine Reihe von Fragen zu geben vermochten, die sich dem Menschen aufdrängen. Gibt es etwas, das notwendig ist, weswegen wir etwas sicher wissen können? Existiert Gott? Haben wir Aussicht darauf, moralisches Verhalten vom Weltlauf unterstützt zu sehen? Gibt es eine Seele, und ist sie unsterblich?

Diese unbeantwortbaren Fragen

300 jahre immanuel kant: wider die selbstverkleinerung des geistes

Das Grab des deutschen Philosophen Kant in Kaliningrad: Sein Werk hat tiefe Spuren hinterlassen.

Heute mögen viele dieser Fragen naiv oder entbehrlich klingen. Man kann sein Leben auch führen, ohne eine Antwort auf sie zu haben. Kann man es aber auch gut führen, ohne sie zu bedenken? Ein Philosoph wie David Hume hatte die „metaphysischen“, also jenseits der Physik liegenden Fragen als Scheinprobleme bezeichnet. Wofür es keine empirischen Evidenzen gebe, damit müsse man sich nicht beschäftigen. Rätsel, die unlösbar sind, legt man besser beiseite.

Kant nahm diese Kritik ernst. Doch er fand, das metaphysische Bedürfnis, Fragen nach Gott, der Seele und dem Ganzen der Wirklichkeit zu stellen, entspringe derselben Vernunft, die sich kritisch zu voreiligen Antworten auf diese Fragen verhalte. Wir kommen nicht los, sagte er, von Fragen, die wir nicht beantworten können, und dieses Dilemma gehört in eine angemessene Beschreibung unserer Situation und Existenz.

Kants „Kritik der reinen Vernunft“ hatte das Ziel, die hergebrachten Behauptungen der Philosophie zu zerstören, Beweise für das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und dergleichen metaphysische Wünschbarkeiten beibringen zu können. Doch bei diesem Zerstörungswerk, das ihm den Namen des „Alleszermalmers“ eintrug, blieb er nicht stehen, denn er hielt dafür, dass Beweisbarkeit kein Kriterium für Vernünftigkeit ist. Auch das, was nicht bewiesen werden kann, hat Anspruch auf Prüfung und übt einen gedanklichen Zwang auf uns aus. Dass gut zu handeln auch dann richtig ist, wenn der Weltlauf sich dafür nicht interessiert, ist eine solche Gewissheit, die sich empirisch nicht demons­trieren lässt. Kant nennt diese Gewissheit ein „Faktum der Vernunft“.

Der Anstoß durch Rousseau

Die Vernünftigkeit des metaphysischen Fragens hat er aus der Form unseres Selbstbewusstseins herzuleiten versucht. Wir seien, hielt er den Psychologien aufklärerischer Machart entgegen, eben keine Wesen, die sich die Wirklichkeit assoziativ aus Sinneseindrücken zusammensetzen. Jeder Gedanke, den wir haben, müsse vielmehr auf alle anderen Gedanken desselben Ichs bezogen werden können. Alles, was wir für wirklich halten, hängt mit den Formen und Regeln zusammen, durch die wir unsere Erfahrungen zu den Erfahrungen eines konsistenten Ichs „synthetisieren“ können.

Es war merkwürdigerweise Jean-Jacques Rousseau, dessen Schriften Kant auf den Weg zu diesen Überlegungen brachten. Merkwürdigerweise, denn es ist gar kein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen diesen beiden Temperamenten. Hier der ständig auf Reisen befindliche, sich ständig streitsüchtig in intellektuellen Konflikten bewegende, in Affären lebende und seine Biographie ausstellende Intellektuelle. Dort der Junggeselle, der sich in seinen Tischgesprächen philosophischen Streit verbat und nach dem man die Uhr stellte, was, der Anekdote zufolge, nur einmal nicht gelang, weil Kant über der Lektüre von Rousseaus Erziehungsroman „Émile“ selbst die Zeit für seinen Mittagsspaziergang vergessen hatte.

Dieser Rousseau nun, der das kantische „Von uns selbst schweigen wir“ am wenigsten beherzigte, hatte Kant zur Einsicht gebracht, dass alle Erkenntnis mit der Selbstvergewisserung des Erkennenden verbunden ist. Der berühmte Satz, Aufklärung sei der Auszug aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, enthält in diesem Sinne die Aufforderung, sich stets vom Nachbeten dogmatischer Sprüche ohne Erfahrungsbezug wie von der relativistischen Selbstverkleinerung des Geistes fernzuhalten.

Darf man Mörder belügen?

Kant hat das außer in seinen schwierigen, oft auf verschlungenen Wegen der Argumentation sich bewegenden Hauptwerken in einer Vielzahl kleiner Schriften getan, die zu seinem Ruhm als Intellektueller führten. Sie handelten davon, was es heiße, sich im Denken zu orientieren, vom Misslingen aller Versuche, Gottes Güte zu beweisen, vom „Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“.

Wie rigoros er dabei mitunter argumentierte, zeigt der kleine, durch Benjamin Constant ausgelöste Essay „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797. Constant hatte Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ so verstanden, dass nur solches Handeln gerechtfertigt sei, dessen Prinzipien („Maximen“) zu einem Gesetz für alle erhoben werden könnten. Lügen wären danach nie gerechtfertigt, denn sie zerstörten, verallgemeinert, die Wahrhaftigkeit menschlicher Kommunikation und das soziale Vertrauen. Der Einwand ­Constants war, dieser Rigorismus zerstöre seinerseits ein Zusammenleben, in dem es geboten sei, den Mörder zu belügen, der uns frage, „ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet habe“. Solch ein Mörder habe kein Recht auf die Wahrheit.

Kant insistierte, Wahrhaftigkeit sei eine absolute Pflicht, auch der Mörder dürfe nicht belogen werden. Das Zusatzargument, vielleicht sei der Freund ja schon gar nicht mehr im Haus, wodurch die treuherzige Aussage dem Flüchtenden sogar helfe, weil der Mörder nun in den falschen Räumen suche, deutet an, dass es auch Kant nicht ganz wohl war mit dem fatalen Ehrlichsein. Der spätere Spott, beim kategorischen Imperativ handele es sich um eine ethische Fassung der Königsberger Polizeiordnung, hätte ihm jedenfalls zu Recht nicht gefallen.

Anleitung zum Freiheitsgebrauch

Wirkung tat seine Philosophie weit über Preußen hinaus. Die „Kritik der Urteilskraft“ beispielsweise, in der er Gedanken zur Schönheit in den Künsten und zur Zweckmäßigkeit in der Natur vereinigte, inspirierte eine ganze europäische Generation von Ästhetikern. Und das, obwohl Kants Erläuterungen für sein Verständnis der Einbildungskraft mehr aus dem Bereich von Tapetenmustern und Tabaksdosen stammten als aus dem Umgang mit großer Literatur oder Musik. Das konnte Schiller, Coleridge und Hölderlin nicht daran hindern, in ihren Gedanken an das „interesselose Wohlgefallen“ und Kants Theorie des Erhabenen anzuschließen.

Oder denken wir an das Völkerrecht. Es vergeht inzwischen keine Woche, in der nicht seine Schrift mit dem ironischen, einem Wirtshausschild in der Nähe eines Friedhofs entnommenen Titel „Zum ewigen Frieden“ beansprucht wird, um sich in der Weltkonfliktordnung zurechtzufinden. Der Bundeskanzler hat für die Gedenkfeier zu Ehren Kants in der Berlin-Brandenburgischen Wissenschaftsakademie eine Rede über diese Schrift angekündigt.

Noch tiefgreifender waren die Wirkungen in der Pädagogik. Kant hatte dafür plädiert, die Kinder „nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglichen bessern Zustand des menschlichen Geschlechts angemessen“ zu erziehen. Das Ziel des Unterrichts wäre danach, diejenigen weltbürgerlichen Gedanken und Einstellungen zu vermitteln, die Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften niedergelegt hatte. Anders formuliert: Unterrichtet werden soll, was in jeder denkbaren Zukunft den Erzogenen nützlich ist. Der berühmteste Satz in diesem Zusammenhang ist eine Frage und lautet: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Er bezeichnet die Grundspannung aller Erziehung als eine Anleitung zum Freiheitsgebrauch. Nach 1800 gibt es kein pädagogisches Werk, das sich nicht mit diesen Überlegungen ausein­andersetzt und sie weiterentwickelt.

Der Fortgang der Philosophiegeschichte im neunzehnten Jahrhundert war nach der von Tübingen ausgehenden idealistischen Epoche ein ständiges „Zurück zu Kant!“. Unabhängig davon, wozu die vielfältigen neukantianischen Versuche führten, die Welt der Ideen gegenüber den gewaltigen Erkenntnisgewinnen in den Naturwissenschaften und dem sie begleitenden Materialismus zu verteidigen, blieb Kant tatsächlich der Referenzpunkt fast aller philosophischen Schulen. Er hat, salopp formuliert, so gut wie keine Gegner, seine produktiven Leser – von Hegel und Schopenhauer, Cohen, Heidegger und Adorno – sind allenfalls untereinander zerstritten. Selbst das angebliche kontinentale Zerwürfnis der Philosophie in einen angloamerikanischen und einen europäischen Denkzusammenhang wird vom Bezug auf Kants Argumentationen überbrückt.

Nicht zuletzt das hat sein Werk jung gehalten. Wer sich ihm nähern möchte, sollte mit einer der kleinen Schriften beginnen, aber nicht dabei stehen bleiben. Im Darmstädter Schulunterricht lasen wir einst die „Kritik der reinen Vernunft“ bis zum Kapitel über die „Transzendentale Deduktion“. Das war eine Strapaze. Wir denken immer mit Vergnügen und Dankbarkeit für die Denkwelt, die sich dadurch öffnete, an sie zurück.

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