Mobilmachung in der Ukraine: Härtere Strafen, aber kaum neue Anreize

mobilmachung in der ukraine: härtere strafen, aber kaum neue anreize

Neue Männer für die Front: Rekruten der 3. Sturmbrigade bei einer Trainingseinheit in Kiew

Nach monatelangen Debatten hat das Parlament der Ukraine am Donnerstag ein neues Gesetz über die Mobilisierung von Soldaten verabschiedet. Es verschärft die Regeln der Erfassung von Männern im wehrfähigen Alter und sieht härtere Strafen für Männer vor, die sich der Erfassung entziehen.

Damit endet die wohl schwierigste parlamentarische Schlacht in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls 2022. Im vorigen Jahr, als sich abzeichnete, dass die von Kiew angekündigte Gegenoffensive gegen die Besatzer kaum erfolgreich sein würde, hatte sie begonnen. Im Dezember hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj öffentlich verkündet, die Armee brauche eine halbe Million neuer Soldaten; das Thema sei „heikel“.

Einberufungsalter bereits herabgesetzt

Zwar hat Russland nach Angaben des amerikanischen Institute for the Study of War von Oktober bis Ende März nur 505 Quadratkilometer Gebiet erobert; das ist weniger als ein Promille des ukrainischen Territoriums. Moskau spricht von 403 Quadratkilometern seit Anfang Januar. Doch zugleich herrscht der Eindruck, dass es für Kiew immer schwieriger wird, genug Soldaten und Munition zu bekommen, während die Russen Stück für Stück vorrücken.

Im Februar wurde der Gesetzentwurf in erster Lesung verabschiedet, doch wurden danach im Parlament gut 4200 Änderungsanträge eingereicht. In der Nacht zu Donnerstag waren diese alle abgearbeitet, und das Gesetz wurde beschlossen. Neben Strafen für Personen, die sich der behördlichen Erfassung verweigern, etwa dem Entzug des Führerscheins oder der Blockade der Ausstellung eines neuen Reisepasses durch ein Konsulat im Ausland, gibt es Belohnungen: So soll, wer besonders gefährliche Aufgaben an der Front wahrnimmt, Sonderzahlungen erhalten.

Zu Beginn des Monats hatte Selenskyj bereits das Alter herabgesetzt, in dem wehrfähige Männer nicht nur einberufen, sondern auch zum Kampfeinsatz geschickt werden dürfen. So können jetzt Männer nicht mehr vom 27., sondern bereits vom 25. Lebensjahr an zur Front geschickt werden.

Demobilisierung wurde aus dem Entwurf gestrichen

Während der Sitzung protestierte vor dem Parlament eine Gruppe von Frauen und hielt, nicht zum ersten Mal, Plakate hoch, auf denen Forderungen standen wie „Demobilisierung sofort!“. Besonders umstritten ist an den Neuregelungen, dass die ursprünglich vorgesehene Demobilisierung, die Entlassung von Soldaten, die bereits seit 36 Monaten Dienst leisten, aus dem Gesetzentwurf gestrichen wurde. Offenbar geschah das auf Wunsch des Verteidigungsministers Rustem Umjerow und der Armeeführung. Zugleich wurde in erster Lesung ein weiteres Gesetz verabschiedet, das vorsieht, dass verurteilte Häftlinge einberufen werden können. Ausgenommen sind dabei Mörder, Vergewaltiger und Täter, deren Taten sich gegen den ukrainischen Staat richteten.

In der entscheidenden Abstimmung über das Gesetz zur Mobilisierung stimmten 283 der 351 anwesenden Abgeordneten für das Gesetz, darunter 192 von Präsident Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“. Ebenfalls dafür waren die meisten Vertreter der relativ russlandfreundlichen „Plattform für Leben und Frieden“. Von den zwei größten proeuropäischen Oppositionskräften, die der frühere Präsident Petro Poroschenko und die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko führen, kamen nur zwei Stimmen für das Gesetz. Insgesamt gab es 49 Enthaltungen und eine Gegenstimme.

Kritik aus der proeuropäischen Opposition

Einen Monat nach der Unterzeichnung durch den Präsidenten kann das Gesetz in Kraft treten. Insgesamt waren die Reaktionen auf die Rechtsänderung gemischt. Eine Abgeordnete der Fraktion Poroschenkos, Maria Ionowa, sagte der F.A.Z., man könne jetzt „nicht hoffen, dass sich die Zahl der mobilisierten oder freiwilligen Zeitsoldaten wesentlich vergrößert“. Die „Lebkuchen“ seien viel geringer als die „Knute“, wie man in der Ukraine sagt: Die Anreize, Soldat zu werden, seien schwächer als die Strafmaßnahmen, und die Wehrgerechtigkeit werde vernachlässigt. Deshalb werde ihre Partei, die „Europäische Solidarität“, einen eigenen Entwurf einbringen, der es Soldaten ermögliche, bei mehr als 18 Monaten Frontdienst seit 2022 abgelöst zu werden.

Taras Tschmut, der beliebte Gründer der Stiftung „Komm lebend zurück“, die in großem Umfang Ausrüstung und Waffen für Soldaten kauft, sagte dem Portal „Ukrainska Prawda“ am Donnerstag, der mögliche Fronteinsatz solle nicht im Alter von 25, sondern bereits mit 20 Jahren beginnen. „Wenn wir als Land überleben wollen, müssen wir den Krieg als Realität akzeptieren. Sonst war alles umsonst, die Hunderttausenden Toten und Verletzten.“ Man habe durch das Zögern der Politiker viel Zeit verloren.

Armee, Nationalgarde und Grenzschutz der Ukraine haben zusammen mehr als eine Million Frauen und Männer unter Waffen. Nach Angaben der Agentur dpa sind bei der Staatsanwaltschaft der Ukraine seit Kriegsbeginn bei stark steigender Tendenz über 46.000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubtem Entfernen von der Truppe eingeleitet worden. Mehr als ein Viertel davon entfällt auf das erste Quartal 2024. Trotz des seit Kriegsbeginn geltenden Ausreiseverbots für Wehrpflichtige sind demnach Zehntausende mit gefälschten Dokumenten über die grüne Grenze ins Ausland geflüchtet. Im Land selbst sind allein in den Gebieten Poltawa, Iwano-Frankiwsk und Czernowitz mehr als 70 000 Personen zur Fahndung ausgeschrieben.

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