Berlin, Hauptstadt der Singles: Eine 500-Euro-App gegen Einsamkeit

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Einsam in Berlin: Eine Frau steht am geöffneten Fenster und schaut ins Freie.

Valentinstag, Tag der Liebenden, ein schlechter Tag für einsame Menschen? An solchen Terminen haben Betroffene besonders häufig das Gefühl, dass es den anderen besser geht, sagt die Berliner Psychotherapeutin Pilar Isaac-Candeias. Sie verstärken unrealistische Vorstellungen von einem angeblich guten Leben. Warum soziale Netzwerke Einsamkeit fördern, ein durchökonomisiertes System Einsamkeit produziert und junge Menschen besonders anfällig dafür sind. Ein Interview.

Haben Sie viele Fälle von Einsamkeit in Ihrer Praxis?

Zu mir kommen Menschen zum Beispiel mit Depressionen oder Angstzuständen, und häufig sind diese Menschen auch einsam. Einsamkeit ist aber keine Diagnose, sondern eine Empfindung aufgrund einer Diskrepanz zwischen dem, was ich mir an Beziehungen wünsche, und jenen, die ich tatsächlich habe. Manche Leute haben sehr viele soziale Kontakte, fühlen sich aber trotzdem einsam.

Wie kommt das?

Sie kommunizieren viel, aber haben keine engen Bindungen.

Gibt es Kriterien für Einsamkeit?

Nein, und das ist ein Problem. Denn es ist schwierig, Einsamkeit zu bestimmen. Man kann allein sein und sich nicht einsam fühlen.

Ist Einsamkeit etwas anderes als Alleinsein?

Das Alleinsein braucht jeder Mensch zuweilen. Es kann etwas Wunderbares sein, wenn man ganz bei sich sein kann. Gerade in einer Großstadt wie Berlin, wo sich viele Menschen gezwungenermaßen auf einem begrenzten Raum begegnen, kann das sehr guttun. Einsamkeit wird dagegen immer als Mangel empfunden.

Fühlen sich junge Menschen anders einsam als alte?

Im Alter kann dieses Gefühl auch entstehen, weil viele Beziehungen nach und nach wegsterben. Wenn die Menschen dann noch gebrechlich sind und ihre Familie nicht am Ort wohnt, wenn sie nur den Pflegedienst sehen, nicht selbst einkaufen oder zur Bank gehen können und dort mit anderen sprechen, dann kann es unerträglich werden. Junge Leute zwischen 14 und 25 Jahren geben in Umfragen deutlich häufiger an, dass sie einsam sind, weil sie sich ihrer selbst oft unsicher sind.

Obwohl sie sozial viel besser vernetzt sind und sich ständig in sozialen Netzwerken bewegen?

Wir sind leibliche Wesen. Wir brauchen es, dass uns andere Menschen berühren. Wir müssen anderen in die Augen schauen können, wollen wissen, welche Energie der Körper derjenigen hat, mit denen wir kommunizieren, wie groß sie sind, wie dick oder dünn. Der Austausch in sozialen Netzwerken ist besser als nichts, aber er ersetzt keine Umarmung, keinen Händedruck. Außerdem: Sind es die virtuellen Freunde, die mich besuchen, wenn es mir schlecht geht, wenn ich zum Beispiel im Krankenhaus liege?

Wohl eher nicht.

Das ist das Paradoxe: Während die Kontakte scheinbar zunehmen, wächst dennoch die Vereinsamung. Die Menschen bleiben zu Hause einsam vor ihrem Bildschirm. Die ausufernde Digitalisierung erschwert aber nicht nur echte Freundschaften, sie schafft auch Druck, erzeugt permanenten Wettbewerb.

Inwiefern?

Es geht zum Beispiel darum, wie viele Online-Freunde jemand hat. „Was, du hast nur fünf Freunde? Ich habe 500?“ Das erzeugt unrealistische Vorstellungen. Es bleibt das Gefühl zurück, dass es den anderen besser geht. Was ist ein gutes, reiches Leben? Am Valentinstag zum Beispiel: „Die Paare, die sich Blumen schenken, die Händchen halten – die lieben sich, aber mich liebt niemand.“ Es ist ein ganzer digitaler Wirtschaftszweig um die Vereinsamung herum entstanden. Es gibt für alles und jeden eine App. Fürs Dating, für Kontakte im Netz aller Art, gegen Einsamkeit. Alles wird ökonomisiert. Inzwischen zahlen sogar die Krankenkassen Geld für solche Apps.

Gegen Einsamkeit?

Wenn Sie zu mir kämen mit einer Depression, die auch auf Einsamkeit zurückgeht, könnte ich ihnen eine App verschreiben. Die bezahlt ihre Krankenkasse.

Was kostet so eine App denn?

Zwischen 300 und 500 Euro pro Patient. Dafür sind inzwischen schon Millionen Euro geflossen. Das mag denjenigen helfen, die ein wenig Grundschulwissen brauchen wie: Geh mal in einen Sportverein, da trifft man andere Menschen. Aber für jemanden, der wirklich ernsthafte psychische Probleme hat, ist das ein Hohn.

Was machen diese Apps?

Sie werden gefragt, wie sie sich fühlen. Ob sie das Gefühl haben, traurig und einsam zu sein. Ob sie glauben, dass die anderen sie nicht mögen. All diese Fragen beantworten sie, und die App gibt ihnen dann Ratschläge.

„Geh mal in einen Sportverein“?

Bei einer Depression kommt zum Beispiel so etwas wie: „Du hast einen schweren Rucksack zu tragen, was kannst du denn davon mal herausnehmen?“ Dann bietet die App Vorschläge, angepasst an die Belastungen, die man vorher eingegeben hat. Zum Beispiel: „Du solltest deinen schwer kranken Freund seltener besuchen, denn das betrübt dich zu sehr.“ Oder: „Jetzt gucken wir mal in dein Ressourcen-Schatzkästlein.“ In dieser Art von Sprache geschieht das. Unterlegt ist das Ganze mit bunten Bildchen. Weil es digital ist, gilt es als modern und schick. Darum geht der Gesundheitsminister Karl Lauterbach wie schon sein Vorgänger Jens Spahn davon aus, dass so etwas Geld spart. Doch die Menschen bleiben weiter allein vor ihren Bildschirmen und fühlen sich einsam. Das Geld für solche Apps fehlt an anderer Stelle, wo es dringend gebraucht würde.

Profitieren nicht auch Psychotherapeuten von Einsamkeit?

Klar, je schlechter es der Gesellschaft geht, desto mehr Kundschaft habe ich. Mir wäre es allerdings lieber, es würde gesellschaftlich gut laufen und ich hätte weniger zu tun.

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Ein Jugendlicher mit Smartphone.

Was müsste sich ändern?

Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu ändern. Das fängt zum Beispiel beim Wohnraum an. Bezahlbarer Wohnraum für sozial Schwache ist in Berlin kaum noch zu finden. Arme Menschen sind immer im Nachteil und häufiger einsam. Wir haben es also auch mit den Folgen einer ungleichen Verteilung des Vermögens zu tun. Man könnte zum Beispiel die Stadtplanung verändern: Mehr Parks, viel mehr Plätze, an denen sich Menschen begegnen. Man könnte auch Nachbarschaftsinitiativen stärker fördern.

In Reinickendorf gibt es jetzt eine Einsamkeitsbeauftragte. Ist das ein sinnvoller Ansatz?

Ich habe große Zweifel daran, dass eine Einsamkeitsbeauftragte oder ein Einsamkeitsministerium wie in England und in Japan nachhaltig etwas bewegen können. Welche Kompetenzen haben solche Institutionen, um etwas zu verändern? Die Grundsätze einer kapitalistischen Gesellschaft bleiben bestehen. Sie lebt von der Individualisierung der Menschen. Es gilt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Es wird dabei so getan, als würden soziale Bindungen gar keine Rolle spielen. Die Menschen haben sich der Ökonomie unterzuordnen.

Sie müssen sich der Arbeitswelt anpassen, flexibel und mobil sein?

Auch ihre Beziehungen sind durchökonomisiert. Es gibt einen regelrechten Hype um die Selbstoptimierung: „Ich muss mich total gesund ernähren, damit ich permanent fit bin. Damit ich die Herausforderungen des Lebens meistere und von den Anderen bewundert werde.“ Doch der Zwang bewirkt genau das Gegenteil. Die Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen nehmen zu.

Macht Einsamkeit auch körperlich krank?

Einsamkeit führt häufig zu Schlafstörungen und Kopfschmerzen und sie schwächt das Immunsystem. Es wurde zum Beispiel an kleinen Kindern nachgewiesen, dass das Immunsystem leidet, wenn sie nicht oft genug berührt werden. Dagegen entwickeln sich Babys besser und ohne Störung, wenn sie oft Hautkontakt mit anderen Menschen haben. Und ständige Anspannung aufgrund von Einsamkeit begünstigt hohen Blutdruck.

Kann Einsamkeit auch zu etwas Lebensbedrohlichem wie einem Herzinfarkt führen?

Das ist denkbar.

Wie weit ist die Vereinsamung der Gesellschaft fortgeschritten?

Bei den Befragungen für das Sozio-oekonomische Panel von 2021 gaben 42 Prozent der Menschen in Deutschland an, einsam zu sein. Einsamkeit gehört zwar zum Menschsein wie das Unglück. Wenn etwa mein Lebenspartner stirbt, oder wenn ich in eine andere Stadt ziehe, fühle ich mich zunächst einsam. Aber ich kann darüber hinwegkommen, wenn ich sozial kompetent bin.

Ist die Einsamkeit jedoch chronisch, wird es problematisch. Gleichgültig, ob persönliche Gründe vorliegen oder soziale und ökonomische Gründe. Ob ich Migrantin bin und die Sprache nicht beherrsche oder nicht das Geld habe für all die schönen Aktivitäten gegen Einsamkeit, von denen wir alle schon einmal gehört haben: in die Kneipe gehen, in den Sportverein und so weiter.

Kann ich trotz unmittelbaren Kontakts im Sportverein oder sogar in der eigenen Familie einsam sein?

Menschen sind auf Spiegelung angewiesen. Wenn mir mein Partner ständig spiegelt, dass er mich nicht ernst nimmt, dann kann ich selbst in der Ehe einsam sein. Das gilt auch für Familien. Wenn meine Eltern und Geschwister in einer bestimmten Art funktionieren, ich aber anders bin und dafür kritisiert oder belächelt werde, fühle ich mich fremd. Ich kann auch einen tatsächlichen, nicht digitalen Bekanntenkreis haben und mich trotzdem fremd und einsam fühlen.

Ist es nicht normal, wenn Menschen sich in bestimmten Konstellationen fremd fühlen?

Auch das gehört zum Menschsein dazu. Einsam werde ich allerdings, wenn ich mir so viel Mühe gebe, von den anderen gemocht zu werden, dass ich selbst deren freundliche Reaktion nicht mehr wahrnehmen kann. Oder manche Menschen entwickeln eine so negative Ausstrahlung, dass ihr Umfeld sie meidet. Es entsteht eine Art Teufelskreis, aus dem man nicht mehr allein herauskommt. Wenn das Selbstwertgefühl am Boden ist oder man anderen gegenüber immer misstrauisch ist, dann sollte man sich professionelle Hilfe suchen.

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