Tiktok wird geflutet mit Propaganda und Fake News. Aber reicht das für ein Verbot der Plattform aus?
Ein Verbot von Tiktok wäre ein sehr starker Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit von vielen Millionen Nutzern. Brent Lewin / Bloomberg
US-Präsident Joe Biden hat das Gesetz gleich nach der Verabschiedung im Senat unterschrieben: Es verlangt, dass die App Tiktok in den USA nicht mehr angeboten werden darf. Die chinesische Eigentümerin Bytedance hat nun zwei Möglichkeiten. Entweder stellt sie die Aktivitäten von Tiktok in den USA ein, oder sie verkauft das US-Geschäft.
Das Tiktok-Verbot ist der Höhepunkt in einer langen Auseinandersetzung über die in den USA äusserst beliebte App. Auffällig ist der Kontrast mit dem sonst in den USA geltenden, sehr liberalen Rechtsregime für soziale Netzwerke. So ist es dem Kongress auch nach dem Sturm auf das Capitol und der damit verbundenen Rolle sozialer Netzwerke bis jetzt nicht gelungen, zeitgemässere Regeln zu erlassen. Die Verhältnisse werden unverändert stark von Marktregeln und den Selbstregulierungen der Plattformen bestimmt. Tiktok bildet hier die Ausnahme. Dies hängt stark zusammen mit den angespannten Beziehungen der USA zu China und den damit verbundenen Wirtschafts- und Sicherheitsfragen.
Trump erklärt den nationalen Notstand – und verliert
So erliess Donald Trump als Präsident im Jahr 2020 eine Executive Order, die das Verbot der beliebten chinesischen Messaging-App WeChat in den USA vorsah. Dies, weil die App eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstelle und das Verbot zum Schutz der nationalen Sicherheit notwendig sei. In einer einstweiligen Verfügung stellte ein Richter allerdings eine mögliche Verletzung des First Amendment, also der Garantie der Meinungsfreiheit im ersten Verfassungszusatz, fest.
Zwar gefährde China die Sicherheit erheblich, aber es fehle ein hinreichender Nachweis, dass WeChat eine unmittelbare Gefahr sei. Nicht anders erging es Trump im gleichen Jahr, als er versuchte, die Nutzung von Tiktok einzudämmen und Bytedance innert einer bestimmten Frist zum Verkauf seines US-Geschäfts zu zwingen. Trump erklärte zu diesem Zweck sogar den nationalen Notstand. Vorübergehend war es auch verboten, die App herunterzuladen.
In dieser Situation begann Tiktok mit Oracle über einen Teilverkauf zu verhandeln. Zugleich beschritt das Unternehmen aber den Rechtsweg, und wieder stoppte ein Bundesrichter Trump, weil die Regierung nicht in der Lage war, eine hinreichende Gefährdung nachzuweisen. Einen weiteren Versuch unternahm der Gliedstaat Montana, indem er der Bevölkerung verbot, Tiktok privat zu nutzen. Begründet wurde dies vor allem mit dem Schutz der Daten der Einwohner gegenüber der chinesischen Regierung sowie generell mit Sicherheitsinteressen. In einer einstweiligen Verfügung stoppte ein Bundesrichter auch dieses Gesetz: Es verletze wahrscheinlich das First Amendment und greife in die Bundeszuständigkeiten im Bereich der Sicherheits- und Aussenpolitik ein.
Starker Eingriff in die Meinungsfreiheit
Ob das jüngste, von Präsident Biden unterzeichnete Verbot durchkommt, ist angesichts dieser Vorgeschichte keineswegs sicher. Zentrale Hürde bildet die Meinungsfreiheit und ihre Bedeutung für den «Marktplatz der Ideen» und damit für die offene politische Auseinandersetzung. In der Gerichtspraxis in den USA, in Europa und in der Schweiz sind gerade Minderheitenmeinungen, und seien sie noch so einseitig, radikal, unsinnig oder schockierend, von diesem Grundrecht geschützt.
Das gilt auch für die Inhalte auf Tiktok. Ein Verbot wäre ein sehr starker Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit von vielen Millionen Nutzern. Genau hier liegen die Schwierigkeiten.
Nach ständiger Praxis des US Supreme Court müssen Massnahmen, welche die Meinungsfreiheit einschränken, grundsätzlich inhaltsneutral sein. Dies soll verhindern, dass die Regierung unliebsame Inhalte verbieten kann. Damit wird es sehr schwierig, Tiktok wegen der verbreiteten Inhalte zu verbieten, zumal die Inhaltsvielfalt dort überwältigend ist. Zwar wimmelt es auf Tiktok von politischen Propagandavideos unterschiedlichster Herkunft – und damit auch von Fake News, Desinformation, übersteigertem Nationalismus und Deep Fakes. Gerade die USA kennen aber keine Rechtsgrundlagen zur Bekämpfung dieser Phänomene. Mit einem Verkauf an eine amerikanische Unternehmung würde sich daher nichts ändern. Und ein generelles Verbot aus Gründen des Inhalts erscheint unverhältnismässig.
Die EU hat russische Propagandamedien verboten
Die Garantie der Meinungsfreiheit lässt überdies Verbote für die Verbreitung politischer Inhalte nur in Extremfällen zu. Beispiel sind die von der EU gegenüber russischen Propagandamedien wie RT und «Sputnik» erlassenen Massnahmen. Deren Hintergrund sind der Krieg in der Ukraine und die verhängnisvolle Rolle, welche diese Medien in diesem Konflikt spielten und spielen. Mit ihren Inhalten zielen sie nicht nur auf die Zerstörung der Ukraine, sondern auch auf die Destabilisierung der Nachbarstaaten mit russischen Minderheiten sowie der nationalstaatlichen und europäischen Institutionen. In dieser speziellen Situation schützte das Gericht der Europäischen Union die Verbreitungsverbote im Interesse der äusseren und der inneren Sicherheit der Union sowie der Mitgliedstaaten. Davon sind die Verhältnisse in den USA indes weit entfernt; Tiktok kann nie eine solche Rolle spielen, und die innere Sicherheit ist gegenwärtig nicht betroffen.
Daher wird das Verbot vor allem aussen- und sicherheitspolitisch begründet: Tiktok wird im neuen Gesetz als von einem ausländischen Gegner kontrollierte Applikation behandelt, vor der die Amerikaner zu schützen sind. China gehört zu jenen Staaten, gegen welche die amerikanische Gesetzgebung besondere Restriktionen vorsieht: Russland, Nordkorea, Iran, Kuba und Venezuela unter Maduro. Nahezu alle grossen US-Internetkonzerne mussten China wegen der äusserst restriktiven Gesetzgebung sowie des Drucks der Regierung und der Kommunistischen Partei verlassen. Zugleich wird das offizielle Amerika den Verdacht nicht los, dass China Tiktok als Propaganda- und Desinformationsinstrument missbraucht. Auch aus diesem Grund pochen der Kongress und die Exekutive in der Aussenpolitik auf einen erheblichen Spielraum, auch wenn dies die Meinungsfreiheit einschränkt.
Wie werden die Gerichte urteilen? Die bisherige Praxis ist eindeutig; es wird schwierig. Im Gegensatz zu Donald Trump, der sich nur auf eine Executive Order stützen konnte, hat nun allerdings der Kongress entschieden. Entscheidend wird sein, welche Hürden die Gerichte für den Nachweis verlangen, dass Tiktok die Sicherheit gefährdet.
Je höher diese sind, desto wahrscheinlicher ist eine Verletzung des First Amendment, zumal das Gesetz ohne eigentlichen Bedrohungsnachweis verabschiedet wurde. Anderseits ist es unklar, ob Gerichte den aussen- und sicherheitspolitischen Spielraum der USA beschneiden wollen. Die Interessenvertretung gegenüber einem mächtigen Rivalen verlangt in den Augen vieler ein möglichst ungehindertes Handeln der Politik. Auch Richter könnten dies so sehen.