Thüringens Verfassung: Wie Höcke ohne Mehrheit Ministerpräsident werden könnte
Björn Höcke im März im Plenarsaal des thüringischen Landtags
Es wäre das erste Mal seit der nationalsozialistischen Diktatur, dass ein Rechtsextremist in Deutschland in ein hohes Regierungsamt gewählt wird. Ein Mann, der mal gesagt hat: „Das große Problem ist, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt.“ Der angekündigt hat: „Wir werden auch ohne Probleme mit 20 bis 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben können.“ Und dessen Plan lautet: „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“
Thomas Kemmerich vor dem dritten Wahlgang im Jahr 2020, in dem dann Ramelow gewählt wurde.
Der Mann heißt Björn Höcke, und seine Partei, die AfD, hat laut dem thüringischen Verfassungsschutz vor, „den Staat zu beseitigen und eine neue Herrschaftsform aufzubauen“.
Damit Höcke im Herbst zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt werden kann, müssen keine unglaublichen Dinge passieren. Es reicht, wenn die Umfragen sich leicht verändern und die anderen Parteien sich streiten. SPD und Grüne standen in Thüringen im März bei sechs und fünf Prozent, die FDP bei zwei Prozent, sie könnten alle unter die Fünfprozenthürde fallen. Die AfD wäre stärkste Kraft mit 31 Prozent. Außerdem im Landtag: die Linkspartei, die CDU und das Bündnis Sahra Wagenknecht.
Wenn der Landtag den Ministerpräsidenten wählt, könnte im ersten Wahlgang zum Beispiel Bodo Ramelow von der Linkspartei kandidieren, der amtierende Ministerpräsident. Er könnte die Hoffnung haben, dass die CDU und das Bündnis Sahra Wagenknecht ihn wählen, um Höcke zu verhindern. Aber die CDU ist an einen Parteitagsbeschluss von 2018 gebunden, sie darf keinen Politiker einer Partei wählen, deren Vorgänger jahrzehntelang eine sozialistische Diktatur in Ostdeutschland betrieben. Und Wagenknecht hat ihre neue Partei nicht gegründet, um ihre alte Partei in die Regierung zu wählen.
Bodo Ramelow im Thüringer Landtag im November 2023
Im zweiten Wahlgang könnte Mario Voigt von der CDU antreten, in der Hoffnung, dass die Linke und das Bündnis Wagenknecht ihn wählen – um Höcke zu verhindern. Aber Altlinke und Neulinke wählen vielleicht nicht gerne einen Konservativen. Im dritten Wahlgang könnte schließlich Höcke antreten. Und die Stimmen seiner eigenen Abgeordneten würden reichen, obwohl sie keine Mehrheit haben. Die thüringische Verfassung hat nämlich eine Besonderheit: Im dritten Wahlgang braucht man keine absolute Mehrheit. Es gewinnt, wer mehr Stimmen als die anderen bekommt.
Höcke wäre nicht einfach nur Ministerpräsident. Die AfD würde die gesamte Landesregierung stellen, jeden Minister. Sie wäre alleinregierende Kraft bis 2029. Es wäre auch nicht der erste Betriebsunfall im thüringischen Parlament. Jeder erinnert sich an Thomas Kemmerich von der FDP.
Die Innenministerin von Sachsen-Anhalt, Tamara Zieschang (CDU), und der Innenminister von Thüringen, Georg Maier (SPD), bei einer Protestveranstaltung gegen die AfD
Der thüringische Innenminister Georg Maier von der SPD weiß noch, wie er einen Tag vor Kemmerichs Wahl zufällig bei dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer in Berlin saß. Maier phantasierte ein bisschen, was in Erfurt alles passieren könnte, und kam auf ein Szenario, in dem die AfD einem FDP-Kandidaten zur Mehrheit verhilft. Gelächter. Abwinken. „Das wird nie passieren!“lautete das Fazit des Gesprächs.
Kemmerichs Wahl führte an den Rand einer Staatskrise
Einen Tag später wurde Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt, weil die AfD-Leute sich einen Trick ausgedacht hatten. Sie stellten einen eigenen Kandidaten auf, wählten aber geschlossen Kemmerich. Deshalb bekam der, zusammen mit den Stimmen von CDU und FDP, die Mehrheit und nicht Ramelow. Das Ganze führte an den Rand einer Staatskrise. Bundeskanzlerin Angela Merkel mischte sich von Südafrika aus ein, Kemmerich bot nur einen Tag später seinen Rücktritt an. Schließlich wurde Ramelow einen Monat später doch zum Ministerpräsidenten gewählt – im dritten Wahlgang und gegen Höcke. Ramelow hatte die CDU-Fraktion gebeten, sich zu enthalten, die FDP beteiligte sich nicht an der Wahl. So bekam er mit den Stimmen von SPD und Grünen die relative Mehrheit.
Höcke würde im Extremfall sogar eine einzige Stimme reichen. Zum Beispiel, wenn er sich zur Wahl stellt, es keinen Gegenkandidaten gibt und alle Abgeordneten gegen ihn stimmen – außer ihm selbst. Für Benjamin Hoff, den Staatskanzleichef und engsten Vertrauen von Bodo Ramelow, wäre das eine klare Sache. Dann reicht einem Kandidaten eine einzige Jastimme. Dann wäre er Ministerpräsident, von eigenen Gnaden.
In vielen anderen Bundesländern läuft das anders. Wenn der Landtag sich dort nicht auf einen Ministerpräsidenten einigen kann, wird er aufgelöst, und die Wähler müssen neu entscheiden. In Thüringen könnte man das auch einführen. Die übrigen Parteien könnten die Verfassung jederzeit ändern, auch im Wahlkampf. Noch haben sie eine Zweidrittelmehrheit. Würden sie es tun, gäbe es keine Möglichkeit mehr, dass Höcke mit wenigen Stimmen Regierungschef wird.
Thüringens dritter Wahlgang hat schon oft Probleme bereitet
Über die Verfassung wird in Thüringen schon länger diskutiert, unabhängig von der AfD. Manche im Erfurter Landtag erinnern sich, dass Ramelow früher eine rechtliche Klärung vom Thüringer Verfassungsgericht wollte, ob ein Kandidat wirklich gewählt ist, wenn er mehr Nein- als Jastimmen bekommt. Andere verweisen auf die Ministerpräsidentenwahl 2009. Damals hatte Christine Lieberknecht von der CDU eine wacklige Mehrheit in ihrer eigenen Partei. Ramelow trat gegen sie im dritten Wahlgang an, obwohl er chancenlos war. Es war ein Gefallen. Er wollte verhindern, dass Lieberknecht mehr Nein- als Ja-stimmen bekommt. Das hätte den Anschein von Illegitimität erzeugt. Thüringens dritter Wahlgang hat also oft Probleme bereitet. Manche meinen, Ramelow habe nur jetzt kein Interesse daran, den dritten Wahlgang in Zweifel zu ziehen, weil er über ihn Ministerpräsident geworden ist.
Einer, der sich für eine Verfassungsänderung einsetzt, ist Georg Maier, Innenminister und Chef der Thüringer SPD. Vor knapp zehn Jahren ist er von Frankfurt nach Erfurt umgezogen. Ambitionen, Ministerpräsident zu werden, plagen den 57 Jahre alten Sozialdemokraten kaum. Dafür ist die SPD viel zu schwach. Maier will, dass ein Ministerpräsident nur gewählt ist, wenn er mehr Ja- als Neinstimmen erhält, wie es in anderen Verfassungen geregelt ist. Ermutigt, einen Vorstoß zu wagen, fühlte er sich vom Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichts, Klaus-Dieter von der Weiden. Der hatte in einem Festakt zu 30 Jahren Thüringer Verfassung auf der Wartburg im Oktober vergangenen Jahres angeregt, die Sache vor der Landtagswahl zu klären. Entweder „durch eindeutige Formulierungen im Verfassungstext“, also eine Änderung der Verfassung, oder aber dadurch, dass das Verfassungsgericht die Frage vor der Landtagswahl verbindlich klärt, wozu aber eine gesetzliche Grundlage nötig wäre.
Maier regte im Dezember 2023 auf dem SPD-Parteitag eine Verfassungsänderung an. Ramelow reagierte scharf und verletzend. Er sprach von einer „absurden Analyse“ Maiers, der die Wahl schon vor dem Wahlkampf verloren gebe und sich „hinter juristischen Spitzfindigkeiten“ verstecke. Das zahle nur bei der AfD ein, die sagen würde, die „Altparteien“ würden die Verfassung ändern, nur um sich gegen die AfD zu schützen. Maier, Stellvertreter Ramelows in der Regierung, musste die Zeitung drei Mal lesen, bevor er glauben konnte, was der Ministerpräsident da über ihn gesagt hatte. Das hatte eine Härte, die er nicht gewohnt war.
Innenminister Maier wird auf der Straße beschimpft
Maier wird auf der Straße manchmal angesprochen. Einmal fragte eine Dame, ob sie ein Foto machen dürfe. Maier stimmte zu. Er vermutete, die Frau sei SPD-Anhängerin. Doch die sagte: „Jetzt habe ich endlich ein Bild von dem Verbrecher, der Höcke mit Verfassungstricks verhindern wollte.“ Seither ist das Verhältnis zwischen ihm und Ramelow abgekühlt. Und eine Verfassungsänderung ist vom Tisch.
Die Mächtigen im Erfurter Landtag sind sicher, dass sie Höcke als Ministerpräsident auch ohne Verfassungsänderung verhindern können. Vor allem natürlich, weil sie so gut Wahlkampf machen. Wenn Höcke kein Direktmandat im Wahlkreis Greiz holt, muss er um seinen Sitz im Landtag bangen. Er steht zwar auf Listenplatz 1 der AfD. Aber die Liste kommt nicht zum Tragen, wenn alle anderen AfD-Kandidaten ein Direktmandat holen. Dann müsste ein anderer gewählter AfD-Kandidat zugunsten Höckes verzichten. Sitzt Höcke wirklich im Landtag, wollen sich die Politiker der anderen Parteien absprechen. Sie wollen sicherstellen, dass jemand gegen Höcke kandidiert und mehr Stimmen als er bekommt. Ihre Botschaft lautet: Die Menschen in anderen Teilen Deutschlands können ganz beruhigt sein. Die Thüringer haben das im Griff. Staatskanzleichef Hoff zum Beispiel sagt: „Wir stolpern nicht schlafwandlerisch in die Katastrophe. Alle haben darüber geredet. Wir würden die Wahl erst ansetzen, wenn Klarheit besteht.“ Bei der CDU sagen sie das auch. Der Landesvorsitzende Mario Voigt will „Klarheit“ vor dem ersten Wahlgang. „Wir haben alle aus 2020 gelernt.“
Klarheit bedeutet: Ein Kandidat hat eine Koalition geschmiedet oder weiß, dass er genug Stimmen hat, um ohne die Stimmen der AfD gewählt zu werden. Das freilich ist nicht nur bei Kemmerich schiefgegangen. Ramelow trat im Februar 2020 an, weil seine Leute davon ausgingen, dass vier CDU-Abgeordnete für ihn stimmen werden. Ramelow fiel durch. Bei der CDU sprechen sie heute von einem „Gerücht“. Voigt sagt: „Rot-Rot-Grün ist ohne Klarheit in den Wahlgang reingegangen.“ Auch bei der FDP sehen sie das so. Der Landesvorsitzende Thomas Kemmerich sagt: „Ramelow hat damals ohne Not und ohne Mehrheit zur Wahl eingeladen.“ Irrtümer und Pannen sind bei solchen Absprachen also möglich. Diesmal müsste es besonders feste Zusagen geben. Es müsste Verhandlungen über Tage und Wochen geben, bis Klarheit besteht.
Die AfD könnte eine Wahl beantragen, bevor die anderen sich abgestimmt haben
Oder nur so lange, bis die AfD überraschend die Ministerpräsidentenwahl beantragt. Das könnte sie nämlich, schon in der konstituierenden Sitzung. Die AfD kann einen Wahlvorschlag unterbreiten, der aufgerufen werden muss, bevor die anderen sich geordnet haben. Wochenlange Beratungen, Koalitionsverhandlungen, Lockerungsübungen zwischen CDU und Linkspartei, all das wäre nicht mehr möglich. Die Wahl müsste binnen Tagen stattfinden.
Aber, aber, sagen die Oberen in Erfurt, alles kein Problem. Der Thüringer CDU-Chef Mario Voigt, gerade bekanntgeworden durch sein TV-Duell mit Höcke, will „auf jeden Fall“ im dritten Wahlgang antreten. Damit will Voigt das Thüringer Problem mit den Nein- und Jastimmen lösen. Und er will Ministerpräsident werden. Seine Rechnung lautet offenbar, dass Ramelow ihn unterstützen muss, um Höcke zu verhindern. Bei der AfD haben sie auch schon eine Idee, was dann wäre. Sie könnten für Voigt stimmen statt für Höcke. Auch dann, wenn Voigt die Stimmen gar nicht braucht, weil im dritten Wahlgang eine relative Mehrheit reicht.
In der Wahrnehmung vieler Menschen wäre Voigt trotzdem ein Ministerpräsident von Höckes Gnaden. Würden SPD-Politiker nicht fordern, er solle die Wahl nicht annehmen? Gäbe es niemanden, der einen Vergleich zu Kemmerich zöge? Wäre das ein guter Ausgang?
Bei der CDU glauben sie nicht an einen solchen Fall. Die AfD würde nicht ihren Fraktionschef aufstellen und ihn dann nicht wählen, denken sie. „Die AfD würde nie ihren Máximo Líder und heimlichen Bundesvorsitzenden desavouieren“, sagt Voigt. Aber wer wäre beschädigter? Höcke, der Drahtzieher, oder Voigt, der zweite Kemmerich?
Kemmerich hatte sieben Sekunden Zeit, um zu entscheiden, ob er die Wahl annimmt. Bei der Linkspartei fürchten sie, dass Voigt im Affekt annehmen würde, wenn die AfD ihn wählt. Sein Argument könnte lauten, er habe das Unmögliche geschafft: Höcke und Ramelow verhindert. In einem Streich.
Bleibt die Verfassung, wie sie ist, käme es auf das Vertrauen der Parteien untereinander an. Aber welches Vertrauen? Zwischen CDU und Linkspartei herrsche „Eiszeit“, heißt es in Erfurt. Momentan finden keine Gespräche statt, allenfalls höfliche, oberflächliche, zwischen Voigt und Ramelow. Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht sind auch nicht gut aufeinander zu sprechen. SPD und Linkspartei haben Vorsitzende, deren Verhältnis zerrüttet ist.
Für Madeleine Henfling, die Spitzenkandidatin der Grünen, liegt genau hier das Problem. Bei Mario Voigt sieht sie die Gefahr, dass sein unbedingter Wille, Ministerpräsident zu werden, dazu führen könnte, dass er klare Absprachen vermeidet. Selbst wenn es Absprachen zwischen den Vorsitzenden geben sollte, könnte die Fraktionsdisziplin leiden, besonders unter Zeitdruck. Wenn Ramelow vorne liegen sollte, dann würde ihn zum Beispiel kaum die gesamte CDU wählen, meint Henfling. Aber würde die Linkspartei umgekehrt Voigt wählen?
Eigentlich kann Henfling sich nicht vorstellen, dass Höcke Ministerpräsident wird. „Aber es ist Thüringen, wir wissen nicht, was in vier Wochen ist.“