«Naziverseucht wie keine andere schweizerische Ortschaft» – Davos arbeitet seine braune Vergangenheit auf

Philipp Wilhelm, der sozialdemokratische Landammann von Davos, geht über die grosse Promenade, den zentralen Nervenstrang des Weltkurortes. Während des WEF tummeln sich hier die grossen Figuren des Weltgeschehens, der amerikanische Aussen-, der chinesische Premierminister, der ukrainische Präsident Selenski. Doch jetzt ist April. Zwischensaison.

Philipp Wilhelm, 36 Jahre alt, läuft an geschlossenen Geschäften und Restaurants vorbei, an leeren Hotels. Vor sich sieht er eine Baustelle. Grosse Camions liefern Baumaterialien für Hotels und Gastrobetriebe an. Arbeiter sägen, schrauben, schaufeln. Davos restauriert sich in diesen Tagen und Wochen selbst. Und gleichzeitig sein Geschichtsbild. Der Landammann Wilhelm hat etwas angestossen: die Aufarbeitung der braunen Davoser Vergangenheit.

Während des Zweiten Weltkrieges gab es nirgends in der Schweiz mehr Mitglieder der NSDAP als in Davos – gemessen an der Grösse der Bevölkerung. Von Davos aus versuchten die Nazis die deutsche Bevölkerung im Städtchen und in der gesamten Schweiz auf die Linie des Regimes zu bringen. Bei Kriegsende schrieb der sozialdemokratische Bundesrat Ernst Nobs, Davos sei «naziverseucht wie keine andere schweizerische Ortschaft».

Vor zwei Jahren hat Landammann Philipp Wilhelm gemeinsam mit der Davoser Dokumentationsbibliothek eine Studie in Auftrag gegeben. Sie sollte zeigen, was man über diese Zeit schon weiss. Aber auch, was Davos noch aufarbeiten muss.

Und nun befindet sich Davos in einem Prozess. Es geht um das Selbstverständnis des Kurortes, um Täter und Opfer, um Verfehlungen der eigenen Eltern und Grosseltern. Es geht um das Vergessen und um ein würdiges Erinnern.

Verfasst hat die aktuelle Studie der Journalist und Historiker Stefan Keller. In den 1990er Jahren erlangte Kellers Buch über das Leben des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger international Beachtung. Grüninger ermöglichte ab 1938 Hunderten jüdischen Flüchtlingen die illegale Flucht in die Schweiz und rettete sie so vor der Vernichtung durch die Nazis.

Vor wenigen Wochen hat Keller die Ergebnisse seiner Studie am Davoser Kulturplatz vorgestellt. Der Andrang war so gross, dass der Platz nicht ausreichte und Dutzende Besucher nach Hause gehen mussten. Antisemitismus ist in Davos Teil der Geschichte – mit Einwirkung in die Gegenwart. Im Winter machte ein Davoser Bergrestaurant Schlagzeilen, weil es auf ein Schild schrieb, dass man keine Schlitten mehr an jüdische Gäste vermiete.

Der Historiker Keller sprach an der Veranstaltung über Figuren, die sich den Nazis in Davos entgegenstellten. Aber auch davon, dass einheimische Hoteliers noch nach dem Krieg von einem «Judenproblem» schwadronierten.

Am Ende seines Vortrages fragte Keller, ob die massive Präsenz der Nazis in Davos bei den Einheimischen vielleicht den Blick auf den eigenen, schweizerischen Antisemitismus verstellt habe. Keller empfahl weitere Studien zur Aufarbeitung.

In der Davoser Erinnerungslandschaft klaffen Lücken

Jetzt, Anfang April, trifft Landammann Philipp Wilhelm auf der Davoser Promenade vor allem auf Einheimische, die spazieren und plaudern. Die meisten Gäste sind abgereist. Wilhelm grüsst, die Einheimischen grüssen zurück. Im Frühling schrumpft Davos zum Dorf. Wilhelm ist mit diesem Auf- und Abschwellen des Ortes aufgewachsen. Er sagt: «Die Geschichte von Davos ist geprägt von einer extremen Offenheit, es ist die Geschichte eines Walserdorfes, das sich der Welt zuwandte und zu einer einzigartigen Alpenstadt heranwuchs.»

Wilhelm erzählt von den Walserfamilien, die das Davoser Hochtal im 13. Jahrhundert besiedelten. Vom deutschen Arzt Alexander Spengler, der Mitte des 19. Jahrhunderts als verfemter Freiheitskämpfer und politischer Flüchtling nach Davos kam. Spengler machte Davos zum Kurort für Lungenkranke.

«naziverseucht wie keine andere schweizerische ortschaft» – davos arbeitet seine braune vergangenheit auf

Landammann Philipp Wilhelm hat in Davos einen Aufarbeitungsprozess angestossen. ;Es geht um das Vergessen und um ein würdiges Erinnern. Annick Ramp / NZZ

Tausende kamen. Viele blieben. Zunächst vor allem Deutsche. Bis 1930 versiebenfachte sich die Wohnbevölkerung. Es heisst, die Tuberkulose habe Davos gross gemacht. Später prägte der Weltschriftsteller Thomas Mann mit seinem «Zauberberg» den Mythos des mondänen Davos.

In diesem Frühling jährt sich die Veröffentlichung von «Zauberberg» zum 100. Mal. Überall in Davos erinnern Plakate an das Jubiläum. Touristen und Literaturbegeisterte können heute die Orte besuchen, die Thomas Mann beim Schreiben beeinflusst haben. Das Hotel Schatzalp, das Waldhotel Davos. Das Tourismusbüro bewirbt den Thomas-Mann-Weg.

Davos ist in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten eine Erinnerungslandschaft geworden. Doch darin klaffen Lücken. Landammann Philipp Wilhelm biegt in eine Seitenstrasse ein.

Vis-à-vis seiner ehemaligen Mittelschule setzt sich Wilhelm auf eine Bank. Auf der Fassade der Schule steht in Grossbuchstaben geschrieben: «Schweizerische Alpine Mittelschule». Von 1878 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges hiess diese Schule «Pädagogium Fridericianum». Sie war nach einem badischen Grossherzog benannt worden. Das Fridericianum war eine deutsche Schule, vermittelt wurde eine deutsche Gesinnung.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland entstanden am Fridericianum in Davos Abteilungen der Hitlerjugend und des Bundes deutscher Mädel. Auf dem Dach wehte die Hakenkreuzfahne.

Landammann Philipp Wilhelm sagt, man habe in seinem privaten Umfeld kaum über diese Zeit gesprochen, als er ein Jugendlicher gewesen sei. Erst hier in dieser Schule im Geschichtsunterricht habe er angefangen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Vielen Schülern ging es so wie Wilhelm.

Peter Bollier, ein engagierter Geschichtslehrer, der als Lokalhistoriker mehrere Publikationen zum Thema veröffentlichte, weckte in seinen Klassen die Sensibilität dafür. Die Schüler fingen an zu lesen, zu recherchieren, zu fragen.

Inzwischen haben Historikerinnen und Historiker verschiedene Publikationen veröffentlicht. Was die Nazis in Davos taten, hat die Forschung laut der neuen Studie aufgearbeitet. Speziell das Leben des Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff. Dieser wurde 1936 vom jüdischen Studenten David Frankfurter in Davos erschossen.

Die Nazis machten Gustloff darauf zum Märtyrer, zu einem sogenannten «Blutzeugen». Die Rückführung seiner Leiche nach Deutschland inszenierten sie in der Wochenschau als nationalen Trauerakt. Das Attentat belastete die Beziehungen zur Schweiz. Die Nazis sprachen von einer «Mitschuld der Schweizer Hetzpresse». Der Bundesrat verbot darauf formell Landes- und Kreisleitungen der NSDAP in der Schweiz. Dass die Nazis dieses Verbot umgingen, nahm er stillschweigend hin. Zudem verschärfte der Bundesrat nach dem Attentat die Kontrolle der Presse.

2021 schlug ein Exil-Davoser vor, in Davos eine Gedenktafel für David Frankfurter anzubringen und an die nationalsozialistischen Umtriebe zu erinnern. Der kleine Landrat, die Davoser Regierung, lehnte ab. Sie teilte mit, Gustloffs ehemaliges Wohnhaus solle nicht zu einem «Pilgerort» für die «eine oder andere Seite» werden.

In den letzten Jahrzehnten gab es in Davos verschiedene wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Bemühungen, die Geschichte aufzuarbeiten und sichtbar zu machen. Trotzdem blieb eine vertiefte gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Zeit aus.

Die Studie von Stefan Keller zeigt, dass viele Bereiche dieser Geschichte in Davos nicht ausreichend erforscht sind. Etwa, wie die einheimische Bevölkerung auf die Nazis reagierte. Weshalb die Behörden die Nazis gewähren liessen. Oder wie jüdische Gäste und Flüchtlinge sich fühlen mussten, wenn die Nazis sie auf der Promenade mit ausgestrecktem Arm begrüssten.

Nazis und Juden waren nach dem Krieg unerwünscht

Landammann Philipp Wilhelm steht auf und biegt in einen Schleichweg ein, der ihn zurück auf die Promenade führt. Vor dem Café Schneider bleibt er stehen. In der Zeit des Nationalsozialismus war das Lokal ein Treffpunkt der Gegner der Nazis. Das damalige Wirtepaar Schneider verbot in seinem Lokal den Hitlergruss. Die Nazis setzten seinen Namen deshalb auf eine Liste mit Lokalen, die boykottiert wurden.

Laut der Studie, die Wilhelm in Auftrag gab, hat die historische Forschung lokale Widerstandsfiguren wie das Wirtepaar Schneider bisher weitgehend vernachlässigt. Besonders erstaunlich ist das im Fall Moses Silberroth.

Silberroth stammte aus einer jüdischen Familie in Galizien und liess sich 1917 als Rechtsanwalt in Davos nieder. Später wurde er für die sozialdemokratische Partei in den Bündner Grossrat gewählt. Silberroth sammelte Informationen über die Umtriebe der Nazis und stellte sie den Behörden zur Verfügung. Doch die Bundesanwaltschaft und der Kanton liessen ihn abblitzen. Von der Kantonsregierung hiess es, die Aktivitäten des Landesgruppenleiters Wilhelm Gustloff in Davos stünden nicht im Widerspruch zur Schweizer Verfassung und nicht Gustloff, sondern die «Hetze» gegen ihn schade dem Kurort Davos.

Erst nach Kriegsende handelten die Behörden und wiesen 31 in Davos lebende Nationalsozialisten aus. Doch wie die Studie zeigt, blieb Antisemitismus in Davos auch ohne sie salonfähig.

1946 wollte der Bundesrat ein deutsches Kurhaus in Davos für zwei Jahre einem Kinderhilfswerk zur Verfügung stellen. Tuberkulöse jüdische KZ-Überlebende, die fast verhungert und nur knapp der Vernichtung durch die Nazis entgangen waren, sollten sich hier erholen können. Doch die Davoser Hoteliers wehrten sich dagegen. Sie verlangten von den lokalen Behörden, sich «gegen die Unterbringung zahlungsschwacher KZ-Überlebender» auszusprechen.

Gleichzeitig fabulierte die «Davoser Zeitung» regelmässig über die «Judenfrage», ein angebliches «Judenproblem», «Überfremdung» und die mangelnde «Assimilierung» der Juden.

Die Studie des Historikers Stefan Keller hat all das einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Einige Tage nach der Informationsveranstaltung erschien in der «Davoser Zeitung» ein Leserbrief, der sich mit der Ablehnung gegenüber den KZ-Überlebenden auseinandersetzte. Und der symbolisch dafür steht, wie eigenwillig Geschichte gedeutet werden kann.

Im Leserbrief stand: «Der Krieg war vorbei, man wollte die Verbrechen vergessen, befand sich im Aufbau, man wollte keine abgemergelten und traurigen KZ-Überlebenden im Ort, welche der aufstrebenden Tourismusdestination dauernd das vergangene Elend vor Augen führten.» Das sei zwar beschämend, gehöre aber zum Kontext der Davoser Nazi-Geschichte. Geschrieben hat diese Zeilen eine Davoser Hotelière.

Landammann Wilhelm biegt jetzt ab und geht zurück ins Rathaus. Er hat zu tun. Und es wird klar: Auch Davos hat noch viel Arbeit vor sich. Wilhelm sagt: «Damit wir einen würdigen Umgang mit der Geschichte finden können, müssen Expertinnen und Experten diese Vergangenheit breit aufarbeiten.»

Im Juni wird der Kanton Graubünden ebenfalls eine Studie zur Aufarbeitung der NS-Zeit veröffentlichen. Und in Davos macht Philipp Wilhelm einfach weiter. Er unterstützt ein Filmprojekt des Davoser Videojournalisten Sven Paulin zur NS-Vergangenheit des Kurortes. Und seine Mitarbeiter suchen Historikerinnen und Historiker, die die Forschungslücken schliessen.

Vielleicht wird auf der Davoser Promenade dereinst ein Denkmal stehen, das an die Nazis erinnert, an den deutschen und den schweizerischen Antisemitismus. Und an widerständige Bürger wie die Familie Schneider oder Moses Silberroth. Es würde in eine weltgewandte Alpenstadt passen.

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