Pianist Evgeny Kissin: Begeisternder Soloabend in der Philharmonie

Der russische Pianist gastiert mit seinem aktuellen Soloprogramm in der Philharmonie und weiß mit persönlichen Lesarten von Werken Beethovens, Chopins, Brahms’ und Prokofjews zu überraschen.

pianist evgeny kissin: begeisternder soloabend in der philharmonie

Evgeny Kissin

Etwas scheint es heute mit der Vier auf sich zu haben: Die eröffnende Beethoven’sche Sonate op. 90 entstand 1814, die beschließende, dabei viersätzige zweite op. 14 Sergej Prokofjews feierte 100 Jahre später (1914) Premiere; das Binnenprogramm verschränkt Frédérik Chopins Nocturne op. 48 Nr. 2 und die Fantasie op. 49 (von 1841) mit Johannes Brahms’ 4 Balladen – wiederum 1854 komponiert.

Dabei zeigen schon die erste Hälfte des Vier-Komponisten-Abends, welche vier Attribute Kissin unverkennbar auszeichnen: Einmal die markanten, gern kantigen Bässe, die aktiv mitgestalten und mit der Oberstimme korrespondieren. Letztere konstituiert die zweite Säule des Klaviersatzes: Evgeny Kissin zeigt, wie Kantilenen zu singen vermögen, scheinbar tempounabhängig immer spannungsvoll von samtweich bis ins doppelte Forte hinein.

Drittens beeindruckt ein unbändiger Ausdruckswille, der musikalische Details hingebungsvoll ausformt und – schließlich – dieses schwer fassbare Element der: Überraschung.

Ein kleines Wunder

Überraschend ist im Grunde schon das etwas unspektakulär anmutende Programm. Noch bedeutsamer erscheint es nun, wenn einer der manuell begabtesten Musiker seiner Generation, der schon als Zwölfjähriger mit einer Live-Aufnahme beider Klavierkonzerte Chopins international Furore machte, nun gern explizit langsame Tempi wählt.

Diese Tendenz ist keineswegs einer der so häufigen „Alterserscheinungen“, denn wenn der Anfang des ersten Satzes aus op. 90, mit „Lebhaftigkeit“ vorzutragen, verblüffend im tempo di marchia ansetzt, wird doch schnell klar, worum es dem 52-Jährigen geht: Er nimmt den zweiten Teil der Vortragsanweisung – „durchaus mit Empfindung und Ausdruck“ – wörtlich.

„Durchaus“ meint im zeitgenössischen Jargon so viel wie durchgehend, und Beethovens Forderung wird nun durchaus zum Motto, zum Leitmotiv des Abends. So fügen sich die Details des Momenthaften zur großen balladesken Erzählung zusammen, epische Deklamationen akkumulieren zu drängenden Ausbrüchen, die zuweilen in verblüffende Entrückung münden.

Besonders anschaulich wird das im Piú Lento der letzten Ballade – in seiner dissoziativen Qualität die wohl kurioseste Stelle im Opus. Auch hier blubbern, wabern Kissins Signature-Bässe, schlagen Blasen, die auch schonmal platzen. So wird die häufig als impressionistisches Klanggemälde dargebotene Passage von Farbspritzern à la Pollock durchsetzt: Auf dem Samt des subtil gewebten Klaviersatzes bilden sich fein changierende Lichtreflexe aus. Wie Kissin daraufhin die Reprise der Ballade aussingen lässt, die Coda dann im Schatten der Kantilene versinkt, das darf schon als ein kleines Wunder gelten.

Dieser Brahms will nicht so raffiniert, so perfektionistisch fixiert wie die Lesart eines Arturo Benedetti Michelangeli sein, und selbst ein Andante con moto ohne con moto macht Spaß: Schließlich wird in Prokofjews virtuos bewegten Gewittern gleißender Stahlfinger, aber auch von milchig Verschleiertem nur noch einmal mehr offenbar: Evgeny Kissin vibriert in einer jeder Zelle, schöpft als Ausdrucksmusiker aus dem Moment und vermag es wie kaum ein Zweiter musikalisch zu kommunizieren.

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