Tanz den Bestseller
Zürichs neue Ballettdirektorin Cathy Marston verwandelt Ian McEwans Erfolgsroman «Abbitte» in Tanz.
Ambitioniert bis tollkühn: «Atonement» versucht, die komplexe Psychologie eines Ian-McEwan-Bestsellers zu tanzen.
Zwei Tanz-Spitzenkräfte haben in Zürich gerade ihre jüngsten Kreationen vorgestellt: Crystal Pite reiste mit ihrem Ensemble Kidd Pivot und der Produktion «Assembly Hall» zum Tanz-Festival «Steps» an. Und Zürichs neue Ballettdirektorin Cathy Marston präsentierte ihre erste abendfüllende Uraufführung «Atonement», eine Nacherzählung von Ian McEwans Roman «Abbitte».
Crystal Pite, die auch für grosse Häuser arbeitet und eher experimentelle Formate entwickelt, punktete zuletzt mit einem wahnwitzig rasanten «Revisor». Die Kanadierin verwandelte Gogols Abrechnung mit provinzieller Kleingeisterei in ein Hybrid aus Sprache und Tanz, das ihren Ruf als trickreiche Bewegungsregisseurin festigte. Cathy Marston ist dagegen eher aufs Klassische abonniert, auf Evergreens wie Charlotte Brontës «Jane Eyre». Seit sie 2020 am Royal Ballet London ein fesselndes Porträt der Cellistin Jacqueline du Pré vorlegte, gilt sie zudem als Psychospezialistin. Keine schlechte Voraussetzung für einen «Atonement»-Transfer auf die Tanzbühne.
Natürlich erhöht allein die Wahl des Stoffs den Erwartungsdruck beträchtlich, knüpft doch McEwans Bestseller ein hochkomplexes Geflecht aus Lüge und Wahrheit. Diese Textur tänzerisch nachzustricken, wirkt ambitioniert bis tollkühn. Das Ergebnis im Zürcher Opernhaus ist dann auch zwiespältig.
Eine Frau, ein Mann, ringsum feudal dekoriertes Ambiente. Das Papier, das die Frau in Händen hält, droht ihn zu desavouieren. Es ist ein Tagebuchblatt, das ihr die jüngere Schwester zugesteckt hat. Der Mann hat seine erotischen Fantasien darauf notiert, lauter Bett- und Beischlafträume. Das Objekt der Begierde ist ausgerechnet die Frau. Sie könnte ihm die Sehnsuchtsergüsse um die Ohren hauen. Sie könnte sich lustig machen, ihn verhöhnen. Oder ihre Eltern verständigen und ihn auf alle Zeit vernichten. Was also wird sie tun?
Ein Mädchen wird Zeugin der schicksalhaften Sexszene
McEwans «Atonement» enthüllt die Geschichte eines doppelten Betrugs und erstreckt sich von 1935 bis in die Siebzigerjahre. Im Mittelpunkt steht die anfangs 13-jährige Briony Tallis, die sich in den Kopf gesetzt hat, ein Theaterstück zu inszenieren – mit Familienmitgliedern, die auf dem Landsitz eintrudeln. Dazu zählen ihre Schwester Cecilia und der Sohn der Aufwartefrau, Robbie, dem der snobistische Clan ein Studium finanziert. Was weder Klassismus noch verbotenes Begehren aushebelt.
Die Frau schaut dem Mann in die Augen, durchquert den Raum, schliesst die Tür. Sie schmiegt die Wange in seine Hand, erliegt dem Rausch der Leidenschaft, ohne jede Reserve. Der Mann hebt sie empor, schlingt ihren Leib um seine Lenden, vergräbt den Kopf in ihrem Schoss. Ein rhythmisches Vor und Zurück ergreift von den Körpern Besitz. Bis im Türrahmen ein dritter Körper erscheint. Ein Mädchen, das die Arme vors Gesicht hebt: einer oben, einer unten – ein Sehschlitz, wie ihn Kameraleute fingieren, um die Cadrage eines Bildes anzudeuten. Und wirklich wird dieses Bild – Mann und Frau im Moment der Verschmelzung – das Schicksal aller drei Figuren bestimmen. Obwohl nur eine einzige die Deutungshoheit an sich reisst: das Kind.
Der Sex in der Bibliothek, dessen Augenzeugin Briony Tallis wird, ist eine Schlüsselszene aus «Abbitte». Cathy Marston verdichtet sie klug und kraftvoll mit den Mitteln des Tanzes. Auch das Finale überzeugt, wenn die greise Briony offenbart, wie sie mit einer späteren Falschaussage das Paar ruiniert hat und dafür Abbitte tat: indem sie die Liebenden als Bühnengeschöpfe am Leben hielt. Brionys Karriere als Choreografin ist eine der wenigen, aber konsequent deklinierten Freiheiten, die sich Marston gegenüber dem Original erlaubt.
Insgesamt jedoch regiert eine Art Risikoscheu das Geschehen, wuchert akademischer Balletthistorismus. Was zum Verhängnis wird, sobald der Zweite Weltkrieg ins Spiel kommt: Soldatensprünge in Swastika-Formation, Lazarett-Ritus im Spitzenschuh – keine Spur vom Inferno des Schützengrabens, von den Apokalypsen, mit denen sich Choreografen wie John Neumeier, Hofesh Shechter oder Liam Scarlett in die Annalen des Tanzes eingeschrieben haben. Sie hatten allerdings auch bessere Partituren zur Hand als Marston, der die Filmkomponistin Laura Rossi eine schicke Soundkulisse jenseits aller Psychobefindlichkeiten gebastelt hat: kein taugliches Notensprungbrett für «Atonement» und ziemlich unterkomplex für die Akustik eines Opernhauses.
Schauplatz des Kriminalfalls: eine abgeranzte Turnhalle
Womöglich hätte sich Rossis wohlige Klangwolke im Theater 11 von Zürich-Oerlikon besser entfaltet. Der Neubau beherbergt normalerweise die leichte Muse in Form von Musical und Revue, erweist sich aber als kongenialer Schauplatz für Crystal Pites «Assembly Hall». Nicht zuletzt, weil seine Mehrzweck-Architektur zum Bühnensetting passt, das Jay Gower Taylor für Pites Kriminalgroteske entworfen hat: Eine abgeranzte Turnhalle mit Schulvorstellungs-Charme ist der nicht näher lokalisierbare Ort, an dem acht Angehörige der Mittelschicht zusammentreffen. Sie bilden den Vorstand eines Vereins, dessen satzungsgemässe Aufgabe seit 1993 darin besteht, einmal pro Jahr das Reenactment eines Mittelalterturniers auszurichten. Jetzt steht das Unternehmen am Abgrund: kein Geld, keine Zuschauer, kein Nachwuchs – auflösen oder weitermachen?
Crystal Pites Co-Autor, der Schriftsteller Jonathon Young, liefert Rollentexte, die sich aus dem Off über die Szene legen. Die Sprachschleifen werden von den Tänzern lippensynchron simuliert – ohne Stimme, mit Tanz. Ein riesiger Fake sozusagen, der das handlungstreibende Paradox ästhetisch widerspiegelt: Das achtköpfige Gremium versteht sich auf Als-Ob-Events, auf historische Revivals – und muss nun über Leben oder Sterben seines eigenen Kollektivorganismus entscheiden. Zumindest einer ist am Ende mausetot, nämlich der Adabei der Zusammenkunft, die lebende Karteileiche des Vereins.
Dem Hokuspokus zwischen Tagesordnung und Totschlag zuzusehen, ist das reine Vergnügen. Weil Pite wundersame Schlachtgemälde dazwischenschiebt, auf deren Fabrikation sie erheblich mehr Fantasie verwendet als die Kollegin Cathy Marston. Auch kennt ihre Tanzrhetorik kein Stakkato, sondern bleibt trotz Mega-Suspense im Fluss.
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