Bundesbehörden rechnen in Worst-Case-Szenarien mit zehn Millionen zusätzlichen Geflüchteten aus der Ukraine – ein Zielland wäre Deutschland. Die ausbleibenden US-Hilfen sind ein Problem. Trotzdem geht die Bundesregierung davon aus, dass die Ukraine die Front bis Ende 2024 halten kann.
Geflüchtete aus der Ukraine in NRW picture alliance/dpa
Die Bundesregierung geht bei einem potenziellen Zerfall der Ukraine davon aus, dass rund zehn Millionen Menschen zusätzlich das Land verlassen. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge würde in diesem Szenario nach Westeuropa aufbrechen, ein Zielland wäre Deutschland. Das erfuhr WELT AM SONNTAG sowohl aus Sicherheitskreisen als auch von unterrichteten Parlamentariern. Das Innenministerium (BMI) und die Bundespolizei teilten auf Anfrage mit, grundsätzlich keine Prognosen zur Entwicklung des Migrationsgeschehens abgeben zu wollen.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR mehr als sechs Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Hinzu kommen weitere Millionen Binnengeflüchtete in der Ukraine selbst. In Deutschland halten sich laut Angaben des BMI aktuell 1,1 Millionen ukrainische Staatsangehörige auf, die seit 2022 eingereist sind.
Die Ukraine kämpft derzeit auf mehreren Ebenen mit Problemen. An der Front mit dem Mangel an Soldaten und Artilleriegranaten, weshalb die russische Armee die Initiative übernehmen konnte. Innenpolitisch war es zuletzt der Machtkampf zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem ukrainischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj, der am Donnerstag entlassen wurde. Außenpolitisch sind die ausbleibenden Hilfen der Vereinigten Staaten ein Problem. Der US-Senat hatte am Mittwoch ein Gesetzespaket abgelehnt, das 60 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung der Ukraine umfasst. Die von Donald Trump angeführten Republikaner könnten ihre Blockadehaltung bis zur Präsidentschaftswahl im November fortsetzen.
CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sieht Europa mehr denn je in der Verantwortung für die Ukraine. Die Unterstützerstaaten müssten die militärische Hilfe angesichts des amerikanischen Zögerns jetzt deutlich erhöhen. „Wenn wir unsere Strategie bei der Ukraine-Unterstützung nicht ändern, wird das Worst-Case-Szenario einer Massenflucht aus der Ukraine und einer Ausweitung des Krieges auf Nato-Staaten sehr viel wahrscheinlicher. Dann sind zehn Millionen Flüchtlinge eher eine untere Annahme“, sagte Kiesewetter im Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
„Will die EU nicht, dass die Zahl der Flüchtlinge steigt, muss sie der Ukraine jetzt helfen“
Migrationsforscher Gerald Knaus teilt diese Einschätzung: „Würde die Ukraine den Krieg verlieren, könnten auch viel mehr als zehn Millionen Flüchtlinge in die EU kommen. Es ist jetzt schon die größte Fluchtbewegung in Europa seit den 1940er-Jahren.“ Im Vergleich zur Massenflucht im Kontext des Krieges in Syrien gebe es einen großen Unterschied. Die Türkei habe mittlerweile die Grenze zu Syrien geschlossen und eine Mauer errichtet. Dies werde die EU in Bezug auf die Ukraine nicht machen: „Will sie also nicht, dass die Zahl der Flüchtlinge steigt, muss sie der Ukraine jetzt helfen, ihren Verteidigungskrieg zu gewinnen.“
Die 27 EU-Staaten hatten sich Anfang Februar nach langen Diskussionen auf ein neues Hilfspaket für die Ukraine geeinigt. 50 Milliarden Euro sollen demnach bis 2027 an Finanzhilfen in das Land fließen, ein großer Teil davon als Kredit. Michael Roth (SPD), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, warnt davor, dass dieses Geld nicht ausreichen könnte. Sollten die USA als Unterstützer weiterhin ausfallen, müsse Europa nachlegen. „Die EU sollte dann über eine gemeinsame Schuldenaufnahme nachdenken, um erstens den ukrainischen Haushalt und Wiederaufbau langfristig zu finanzieren, zweitens die europäische Rüstungsproduktion noch schneller hochzufahren und drittens Rüstungsgüter für die Ukraine, vor allem Munition, nicht nur in Europa, sondern auf dem Weltmarkt einzukaufen.“
Trotz der aktuellen Probleme in der Ukraine geht die Bundesregierung davon aus, dass das Land über die militärischen und finanziellen Mittel verfügt, um die Verteidigung und Stabilität bis Ende 2024 aufrechtzuerhalten. Sowohl deutsche Dienste als auch westliche Analysten halten große Frontdurchbrüche in diesem Jahr für unwahrscheinlich. In den vergangenen Wochen hat die russische Armee unter hohem Aufwand nur kleine Gebietsgewinne erzielt. In der Ostukraine stehen Putins Truppen kurz vor der Eroberung der umkämpften Stadt Awdijiwka.
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