Eine Frage des Vertrauens

Düsseldorf. Sascha Lobo warnt in schlimmen Zeiten wie diesen vor der großen Vertrauenskrise. Weil sie auch unsere Demokratie erschüttert. Der 48-jährige Autor und Blogger verrät aber auch, wie man neues Vertrauen zurückgewinnen kann.

eine frage des vertrauens

Der 48-jährige Autor Sascha Lobo.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Kennt jeder. Ein Bonmot, mit dem gerne Erziehungsberechtigte dem Nachwuchs die Grenzen ihres Vertrauens vor Augen führen. Dem russischen Revolutionär Lenin (1870-1924) wird dieser Satz zugeschrieben, der zum kurzen, markanten Plädoyer fürs sogenannte gesunde Misstrauen wurde. Das wäre eine harmlose Beschreibung dessen, was aktuell und tiefgreifend in der Gesellschaft zu grassieren scheint: „Die große Vertrauenskrise“ nennt es der Publizist, Blogger und Podcaster Sascha Lobo und hat damit auch sein jüngstes Buch betitelt. Danach ist die Krise des Vertrauens auch eine Krise des Vertrauten. Sie ist viel mehr als nur eine gesteigerte Politikverdrossenheit: Sie ist das Alarmsignal für unseren Kontrollverlust. Echtes Vertrauen beruht nämlich darauf, dass wir die Realitätskontrolle über Situationen oder unser Leben zu haben glauben.

Die auch von Soziologen attestierte große Vertrauenskrise meint in Wahrheit einen grundlegenden Vertrauensverlust. Sascha Lobo spricht bei dieser Zuspitzung auch von Vertrauenspanik, wenn bei Menschen jedes Vertrauen vollends schwindet. „Wir brauchen eine Art Minimalkonsens, eine Art Vertrauen in die ganz normale Realität: Stimmt das, was wir gerade sehen und was uns gegenübersteht?“, so Lobo im Gespräch mit unserer Zeitung.

Nach seinen Worten könne jeder stets ganz viel anzweifeln. Wenn aber zu viel oder sogar die Substanz angezweifelt werde, wie es etwa bei Trump-Anhängern oder Corona-Leugnern regelmäßig zu beobachten ist, dann scherten diese Leute aus Gesellschaftsdebatten einfach aus. „Diese Menschen sind rational nicht mehr zu erreichen. Wer sich aber politisch engagiert, brauche ein Vertrauen vor allem in die Zukunft.“ Der Verlust des Zukunftsvertrauens resultiert auch aus einem Defizit an Hoffnung, wenn es uns also an der Fähigkeit mangelt, über das, was aktuell ist, hinaussehen zu können.

Die Vertrauenskrise ist keine Modeerscheinung, keine Befindlichkeit von Menschen mit ausgeprägtem Unbehagen. Es gibt Ursachen dafür. Besonders naheliegend ist die Corona-Pandemie mit einem eigenartigen Effekt. Zu Beginn der Pandemie steigt nach den Worten Sascha Lobos sogar das Zutrauen in Politik und Wissenschaft. Für die Einschätzung unserer Lage wurde etwa der Virologe Christian Drosten für viele Menschen ein wahrer Vertrauensmann. Das aber änderte sich mit zunehmender Dauer der Pandemie und mitunter widersprüchlichen Maßnahmen und Informationen.

Für Sascha Lobo zählt Corona zu einem der Auslöser der weltweiten Vertrauenskrise. Darauf folgte dann „fast übergangslos“ der russische Überfall auf die Ukraine und wurde zum „Brandbeschleuniger unserer gegenwärtigen Vertrauenskrise“. Inflation, Rezession und Klimakrise sind weitere Gründe für die „Vertrauensimplosion“. Es gibt im 21. Jahrhundert eine Vorgeschichte mit Ereignissen in kürzeren Abständen: mit den Anschlägen des 11. September 2001, dem zweiten Irakkrieg ab 2003, der Finanzkrise 2008, der Eurokrise 2009, Pegida 2013, der russischen Annexion der Krim 2014, der Migrationskrise 2015, dem Brexit und vor allem der Trump-Wahl im Jahre 2016.

Unsere Krisenerfahrungen haben sich zu einer bedrohlichen Polykrise addiert, in der radikal das Vertrauen in unsere Institutionen schrumpft, die vormals so etwas wie Stabilität gewährleisten konnten. An Institutionen wird dann diese Frage gestellt: Kriegen die es hin, uns einigermaßen durch die Gegenwart zu schaukeln? Darauf beruht unser soziales Urvertrauen. „Wenn immer mehr Leute dies aber verneinen, kann dies zu einem großen Problem für unsere ganze Gesellschaft werden“, sagt Lobo. Es folgen Ängste, die äußerst „destruktive Zweifel am Funktionieren der Demokratie“ gebären.

Spätestens an diesem Punkt wird es politisch brisant. Je kleiner das Vertrauen in demokratische Institutionen wird, desto größer wird das Machtpotenzial für autoritäre Herrscher, für jene also, die auch in komplexen Zeiten einfachste Lösungen parat zu haben scheinen. Das geschieht nach Sascha nicht selten mit dem simplen Instrument der Lüge nach dem Motto: Beschuldige deine Feinde dessen, für das du selbst verantwortlich bist. Verschwörungstheorien werden in die Welt gesetzt, Gegenrealitäten entworfen; beides nicht selten initiiert und befeuert auch durch russische Propaganda, sagt Lobo.

Weil es gilt, die liberale Demokratie zu stützen und weil es kein glückliches Leben im Unglück geben kann, hat sich der 48-Jährige auch Gedanken zu einer möglichen Bewältigung der Vertrauenskrise gemacht. Seine Ratschläge klingen empörend schlicht, sind aber gerade deshalb vielleicht erste Schritte zu einem verantwortungsvollen Umgang mit sozialen Medien – wie: nicht nur die Überschriften lesen; Behauptungen als solche betrachten; fragen, wer wie und wann eine Information in die Welt gesetzt hat; wie ist der Sound der Kommunikation usw.

Abschottung von einer „vernachrichteten“ Welt, in der man schon in jeder Familien-WhatsApp-Gruppe mit Hinweisen geradezu beschossen wird, hilft nicht; und wird von Lobo – der als seine Wohnorte gerne Berlin und das Internet angibt – auch gar nicht empfohlen. Vielmehr müssten wir lernen, eine große Zahl an neuen Nachrichten zu bewältigen, ohne dass darunter das Vertrauenszentrum leidet. Die Verarbeitung von Nachrichten könne dann zu einer „eigenen Kunst“ werden. Wer die nicht beherrscht, kann schnell jedes Vertrauen verlieren.

Für ihn kann die digitale Vernetzung aber durchaus ein Teil der Lösung sein, um neues Vertrauen wieder aufzubauen. Die globale Öffentlichkeit, der wir rund um die Uhr ausgesetzt sind, geht eben auch mit einem ungeheuren Wissenszuwachs und einer neuen Form der Aufklärung einher. Sie stellt neue Erwartungen an eine transparente Kommunikation von Politik und Institutionen.

Das eindrucksvollste Beispiel ist für Sascha Lobo vor diesem Hintergrund Wikipedia: „Hätte man im 20. Jahrhundert jemanden gefragt: Vertrauen sie einer Website, auf der jeder alles reinschreiben kann? – dann hätten die meisten doch gerufen: Auf gar keinen Fall, das ist der beste Weg, um Schindluder zu betreiben.“ Es sei genau umgekehrt: Heute gehört Wikipedia zu den Plattformen, denen am meisten Vertrauen entgegengebracht wird. Und das offenkundig zurecht. Nach einer mehrsprachigen Untersuchung durch Wissenschaftler der Universität von Oxford soll die Fehlerzahl auf Wikipedia geringer sein als in der altehrwürdigen und vielbändigen „Encyclopedia Britannica“.

Zu guter Letzt: Die eingängige und darum auch beliebte Redewendung Lenins über gutes Vertrauen und bessere Kontrolle soll so nie gefallen sein. Überliefert ist, das der russische Revolutionär vielmehr dieses Sprichwort im Munde führte: „Vertraue, aber prüfe nach!“ Klingt etwas harmloser. Vor allem zielt es auf das genaue Studium der Quellen. Könnte glatt von Sascha Lobo stammen.

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