SERIE - Was, wenn Donald Trump gewinnt? Ein Sieg des Isolationisten wäre ein Stresstest für Europa
«America first»: Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump an einem Wahlkampfauftritt in South Carolina im Februar. Sam Wolfe / Reuters
Donald Trump machte aus seiner Ablehnung der Europäischen Union nie ein Hehl. Sie sei ein «Feind der USA», ein «brutaler Handelspartner», «schlimmer als China», polterte der 45. amerikanische Präsident zu Amtszeiten. Sie sei nur mit dem Zweck gegründet worden, «den Vereinigten Staaten zu schaden», werde eines Tages aber sowieso «auseinanderbrechen».
In Brüssel hat man die Schmähungen nicht vergessen. Ein «Höllenloch» nannte Trump die belgische Hauptstadt, die auch Sitz der europäischen Institutionen und der Nato ist. Viele Diplomaten und Eurokraten machten drei Kreuze, als er Anfang 2021 aus dem Amt schied. Trump hatte einen Handelskrieg mit der EU vom Zaun gebrochen und mit dem Rückzug seines Landes aus der Nato gedroht. Die transatlantischen Beziehungen waren auf einem historischen Tief.
Europaskeptiker frohlocken
Zwar gab es schon lange vor Trump Konflikte zwischen den Partnern, beim Freihandel, in der Sicherheitspolitik. Mit seinem kaltschnäuzigen Auftreten aber unterschied sich Trump radikal von jedem seiner Vorgänger. Der frühere EU-Kommissions-Chef Jean-Claude Juncker erzählte gegenüber der NZZ, dass Trump seinen Gesprächspartnern notorisch misstraut habe: «Er wollte nicht einsehen, dass der Schulterschluss mit den Amerikanern zu unserer Gründungsphilosophie gehört.»
Mit der Frage seiner Wiederwahl wollte sich in Brüssel auch deswegen lange niemand beschäftigen, weil das Prinzip Hoffnung vorherrschte. Doch längst ist offensichtlich: Die Rückkehr des «grossen Disruptors» ins Weisse Haus ist durchaus möglich – mit potenziell gravierenden Konsequenzen für Europa. Experten erwarten neue Zölle, einen verschärften Standortwettbewerb, eine Abwendung von der Nato, den Rückzug aus multilateralen Abkommen.
Es gibt aber auch Europäer, die das Comeback des Republikaners herbeisehnen. Einige rechte und EU-skeptische Kräfte sehen in Trump einen Verbündeten in ihrem Kampf für mehr nationale Souveränität und Identität. Erst kürzlich hielten die sogenannten Nationalkonservativen in Brüssel eine Konferenz ab, bei der auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sprach und Trumps Wiederwahl als Freiheitsgewinn für Europa beschwor.
Ein zentrales Thema für das künftige transatlantische Verhältnis wird das Verhalten des nächsten amerikanischen Präsidenten gegenüber Russland sein. Überraschend hat der Kongress in Washington kürzlich neue Militärhilfen für die Ukraine bewilligt – mit Trumps Zustimmung. Trotzdem wird sich Europa auf eine dauerhafte amerikanische Unterstützung für Kiew nicht verlassen können.
Was wäre bei einer zweiten Amtszeit Trumps für die EU zu erwarten, wenn dessen isolationistische und protektionistische Pläne Realität werden? Würde sich der Staatenverbund zusammenraufen oder würden in Brüssel die Fliehkräfte einsetzen? Vorstellbar sind mehrere Szenarien.
Szenario 1: Trump als Geburtshelfer eines wehrhaften Europa
Trump drohte schon früher «zahlungssäumigen» Staaten in der Nato damit, keinen militärischen Beistand zu leisten. Der grosse Unterschied zu heute besteht darin, dass Wladimir Putin die Ukraine überfallen hat und die Europäer erkennen mussten, wie wenig abwehrbereit sie sind. Zwar wird mittlerweile überall auf dem Kontinent aufgerüstet. Doch das reicht nicht. Konservative Think-Tanker in den USA propagieren den Abzug oder Teilabzug der amerikanischen Truppen aus Europa. Nur noch auf Washingtons nuklearen Schutzschirm sollen die Verbündeten künftig zählen können («Schlafende Nato»).
Den Europäern bleibt in dem Fall nichts anderes übrig, als die konventionelle Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen. In einem für die EU optimistischen Szenario führt das zu einem neuen Integrationsschub. Die Mitgliedstaaten werden sich militärisch stärker verzahnen, sie werden Fähigkeiten bündeln und viel entschiedener gemeinsame Rüstungsprojekte vorantreiben. Die EU wird sich in eine Verteidigungsunion verwandeln; ergänzend, nicht alternativ zur Nato.
Antreiber dieser Entwicklung werden Frankreich und Deutschland sein. Frankreich hat bereits eine robuste Verteidigungskapazität und will seine Führungsrolle in der europäischen Verteidigung festigen. Deutschland ist der grösste und wirtschaftlich stärkste Mitgliedstaat, dem die Stabilität der EU besonders am Herzen liegt. Polen wird wegen seiner geografischen Lage und seinen Sicherheitsinteressen ebenfalls zu den militärischen Schwergewichten gehören. Ein wehrhaftes Europa wird schliesslich auch von den USA wieder ernst genommen.
Zur Erinnerung: 2016 war das Jahr von Trumps Wahl und dem Brexit. Aber was darauf folgte, war kein Aufstieg der Souveränisten und Populisten in Europa. Der «Trump-Effekt» blieb aus. Im Handelskrieg mit den USA zogen die Mitgliedstaaten an einem Strang. Mehrere Schocks wurden bewältigt, ohne dass es zu Auflösungserscheinungen gekommen wäre. Die EU wachse an ihren Krisen, heisst es. Das könnte nach einer Wiederwahl Trumps auch so sein.
Szenario 2: Trump als Steigbügelhalter Putins
Entscheidend ist der Zeitfaktor. Wenn Trump seine Drohung schnell wahr macht und amerikanische Truppen in kurzer Zeit aus Europa abzieht, werden die Verbündeten enorme Summen bereitstellen müssen, um die Lücken schliessen zu können. Das wird innenpolitische Konflikte auslösen. Schon heute stehen europäische Regierungen unter Druck, nicht nur für ihre Streitkräfte, sondern auch für die Bildung, die Gesundheitsvorsorge und die Infrastruktur mehr Geld auszugeben.
Die öffentliche Unterstützung für die Ukraine ist zwar mehrheitlich vorhanden. Aber sie steht und fällt mit den Erfolgen der ukrainischen Truppen, wie die Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) kürzlich schrieb – und sie könnte noch weiter schwinden, wenn Rüstungsausgaben durch weitreichende Einsparungen im sozialen Bereich finanziert werden.
In einem pessimistischen Szenario wird Trump die amerikanischen Militärhilfen für die Ukraine schliesslich doch einstellen. Das wird die Verbündeten überfordern. Ohnehin wird in den europäischen Gesellschaften kaum noch jemand bereit sein, in eine hoffnungslose Sache zu investieren. Trump und Putin werden sich auf einen «Friedensplan» einigen, der vorsieht, dass die Ukraine die Krim und den Donbass an Russland abtritt und Moskau dafür die Waffen schweigen lässt.
Die EU wird mit einem selbstbewussten Russland konfrontiert sein, das vorläufig seinen Appetit zügelt, weiter in den Osten Europas vorzudringen. In Deutschland und Frankreich werden Stimmen lauter, sich wieder mit Putin zu arrangieren. Auch in Italien und Spanien werden die Regierungen auf eine Normalisierung der Beziehungen drängen. Über Fragen des Handels und der Sicherheit werden Trump und Putin nur noch bilateral verhandeln wollen. Die Europäische Union wird dauerhaft geschwächt.
Szenario 3: Der permanente Deal
Vielleicht bleibt die «Trumpocalypse» aber auch aus, und eine zweite Amtszeit des Republikaners wird überraschend unspektakulär. Trumps Politik war vielleicht oft chaotisch und rücksichtslos, aber sie war auch durchgehend transaktional. Das heisst, sie war danach ausgerichtet, politische Entscheide auf der Grundlage von kurzfristigen Interessen und persönlichen Vorteilen zu treffen.
Übersetzt hiesse das beispielsweise, dem nächsten Amtsinhaber im Weissen Haus nicht nur zu versprechen, mehr Geld für die Verteidigung auszugeben und damit die Lasten fairer zu verteilen, sondern dieses Geld auch für amerikanische Waffen auszugeben. Das tun die meisten Verbündeten sowieso schon.
Trumps Rückkehr dürfte ein Stresstest für die transatlantischen Beziehungen sein. Doch es gibt Stimmen, die zur Gelassenheit aufrufen. Die deutsche Aussenhandelsgesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI) bilanzierte kürzlich, dass in der Handels- und Wirtschaftspolitik keine echten Unterschiede zwischen den Amtszeiten von Trump und seinem Nachfolger Joe Biden zu erkennen gewesen seien. Trumps protektionistischen Kurs habe Biden fortgesetzt, wenn auch in weniger aggressivem Ton.
Die Verabschiedung der neuen Militärhilfen für die Ukraine weckt die Hoffnung, dass der Mann, der im amerikanischen Wahlkampf damit prahlte, den russischen Angriffskrieg in 24 Stunden beenden zu können, für rationale Argumente nicht ganz unempfänglich ist. Für die Europäer wiederum gilt, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern unabhängig vom Wahlausgang in den USA mehr für ihre Verteidigung zu tun. Das ist in ihrem ureigenen Interesse.