Keine Angst vor dem nächsten Shitstorm

keine angst vor dem nächsten shitstorm

Kritik am Atomausstieg: Stattdessen wollen die Autoren die Kraftwerke wieder in Betrieb sehen.

„Gender-Sprache“, Political Correctness und die Befürwortung einer liberalen Mi­grationspolitik – das sind nur drei Merkmale, die oft für das, was als „linksliberaler Zeitgeist“ bezeichnet wird, angeführt werden. Eine solche „linke Meinungsvorherrschaft“, so vor allem die Behauptung aus konservativen Kreisen, bestimme zunehmend das Leben und die Debatten in Deutschland.

Drei Menschen aus drei unterschiedlichen Generationen, die sich diesem Zeitgeist nicht zugehörig fühlen, sind der 71 Jahre alte ehemalige RWE-Vorstandsvorsitzende Jürgen Großmann, der 43 Jahre alte Arzt Dominik Pförringer und die 25 Jahre alte Studentin Franca Bauernfeind. Gemein haben sie „das politische Engagement im besten konservativen Sinne“ und die daraus für sie resultierende „Sorge um die Entwicklungen im eigenen Land“. Um dieser Sorge Ausdruck zu verleihen, präsentieren die drei Autoren auf knapp 320 Seiten ihre Sicht auf die großen Herausforderungen und Probleme unserer Zeit. Inwiefern sie mit ihren Positionen tatsächlich „aus der Zeit gefallen“ sind, sei dahingestellt. Abseits des linksliberalen Meinungsspektrums bewegen sich ihre Meinungen aber allemal.

keine angst vor dem nächsten shitstorm

Das Buch beginnt mit einem provokanten Vorwort von Harald Schmidt, in dem er mit einem „Leck mich“ an die „schweigende Mehrheit“ appelliert, dieses Buch zu lesen. Danach ist der Text in zwei Teile gegliedert. Eingangs rechnet Großmann mit der Verteidigungspolitik ab. Deutschland und Europa müssten mehr an sich selbst denken und „neu lernen, dass die USA nicht der gute Onkel und das Sozialamt der Welt sind“. Ähnlich hart geht der Unternehmer mit der Wirtschaftspolitik in die Kritik. Er vertritt die Auffassung, dass Deutschland derzeit einen Übergang weg von den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft erlebe – es gebe gar einen „Regimewechsel vom guten alten Markt zum grün gewandten Marx“, gegen den sich die Wirtschaft kaum wehre.

Ruf nach Diskussion auf Augenhöhe zwischen den Generationen

Pförringer widmet sich den Themen Leistung, Gesundheit und Sprache. Seiner Ansicht nach leben wir in einem Zeitalter, in dem „gar niemand mehr kritisiert werden darf“. Das sei falsch, denn Kritik sei der Schlüssel zur Verbesserung. Außerdem unterliege das, was Pförringer „Kerntugenden der Deutschen“ nennt – Fleiß und Leistung, Können und Kompetenz – einer gefährlichen Erosion, die Deutschland schwäche. Kritik übt der Arzt auch an der derzeitigen sprachlichen Entwicklung. Für ihn ist klar, dass mit dem Gendern – diese Meinung zieht sich auch bei Großmann und Bauernfeind zu den unterschiedlichsten Themen durch die Lektüre hindurch – „eine kleine Minderheit der Mehrheit ihre Wünsche aufzwingt“.

Die ehemalige Bundesvorsitzende des Rings Christlich-Demokratischer Studenten, Franca Bauernfeind, beschäftigt sich mit ihrer Generation, der „Generation Z“, zu deren Lasten die Gesellschaft zunehmend lebe. Deutlich kritisiert sie die „ideologische Schulpolitik“ und die mangelnde Berücksichtigung der Studentenschaft in der Corona-Politik. Sie fordert eine Diskussion auf Augenhöhe zwischen den Generationen: „Gerade in Zeiten des linksliberalen Zeitgeistes“ brauche es Menschen, die den Mut aufbrächten, „Probleme zu benennen, ohne sich vor dem nächsten Shitstorm zu fürchten“.

Im zweiten Teil des Buches, der sich zunächst mit der Klima- und Energiepolitik beschäftigt, bemängeln die Autoren den Atomausstieg. Großmann und Pförringer plädieren vehement dafür, die Atomkraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Einig sind sich die Autoren in ihrer grundsätzlich positiven Haltung zur Europäischen Union. An Kritik mangelt es trotzdem nicht. Großmann wirft dem progressiven Lager in der EU vor, eine „Ausgrenzungs- und Dämonisierungspolitik“ gegen den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu betreiben, und moniert, dass die EZB keine Geldwertstabilität mehr garantiere, während Pförringer mehr Rahmenbedingungen für eine harmonisierte Außengrenzsicherung der EU und eine engere militärische Zusammenarbeit fordert. Bauernfeind plädiert gar für eine umfassende Reform des gesamten politischen Systems der EU mit einem Spitzenkandidatenprinzip, gleichen Wahlen und einer Entbürokratisierung.

Großmann und Pförringer kritisieren nicht nur die Migrationspolitik, sondern vor allem die oft mangelnde Reaktion der Medien, die ihrer Meinung nach die Realität oft verschweigen, wenn sie nicht zum „rosaroten Weltbild“ passt. Schuld daran sei, davon ist Pförringer überzeugt, unter anderem die „linke Gesinnungsethik“, die dazu führe, dass Journalisten, die Straffälligkeiten von „ausländischen Gästen“ erörtern, harte Kritik für „derartig polemische Analysen“ ernten würden. Auch an den sogenannten „Woken“ lassen die drei Autoren kein gutes Haar. Für Großmann gab es in Deutschland seit Jahren „keine vermeintlich elitäre Schicht von solch arroganter Herablassung“. Bauernfeind kritisiert dagegen, dass die Moralisierung der Debatte zu einem Konformitätsdruck und zu einer Spaltung der Gesellschaft führe.

Die unterschiedlichen Stile der drei Autoren sorgen für Abwechslung beim Lesen. Mit der Auswahl der Themen sind sie auch definitiv nicht „aus der Zeit gefallen“. Ob das Buch den Leser allerdings tatsächlich für jeglichen Diskurs wappnet, wie es Harald Schmidt in seinem Vorwort verspricht, erscheint aber zweifelhaft. Denn es zeigen sich zwei Schwächen. Auf der einen Seite neigen die Autoren allzu oft dazu, auf die Politik und die gesellschaftlichen Entwicklungen einzuprügeln. Es mutet seltsam an, zu kritisieren, dass wir in einer Zeit des „Anprangerns und Anklagens“ leben, wenn die Autoren genau dies über weite Strecken des Buches auch tun. Um für einen Diskurs vorbereitet zu sein, hätte man sich an der einen oder anderen Stelle noch öfter konkretere Lösungsvorschläge gewünscht.

Auf der anderen Seite machen es sich die Autoren mit ihrem Rundumschlag gegen jegliche gesellschaftliche und politische Entwicklung auch allzu leicht. Aufgrund der großen Bandbreite an Themen picken sie sich meist nur einzelne Aspekte heraus, ohne das Thema in seiner Gänze zu beleuchten. Um etwas Substanzielles sagen oder Kritik üben zu können, wäre es wünschenswert gewesen, sich auf weniger Bereiche zu beschränken und diese dann in ihrer ganzen Komplexität darzustellen, anstatt von Thema zu Thema zu hecheln.

Der Zweck des Buches ist keineswegs ein Streitgespräch zwischen Autoren unterschiedlicher Positionen. Gerade weil kein linksliberaler Autor dabei ist, wirken die Sprecherpositionen der Autoren an der einen oder anderen Stelle selbstgerecht und selbstgefällig.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich nach der Lektüre tatsächlich, über die besprochenen Themen kritisch nachzudenken, wie die Autoren immer wieder appellieren. Doch auch Alternativen zum „linken Meinungsdiktat“, denen die Autoren in dem Buch teilweise nachhängen, mögen nicht nur deshalb umstritten sein, weil sie „aus der Zeit gefallen“ scheinen, sondern weil sie tatsächlich auch Kritik verdienen.

Jürgen Großmann, Dominik Pförringer, Franca Bauernfeind: Aus der Zeit gefallen? Drei Generationen wider den Zeitgeist.Langen Müller Verlag, München 2023. 320 S., 25,– €.

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