Schicksal einer Lehrerin: Zwölf befristete Arbeitsverträge, jetzt Zwangsferien
Dixie Rolf durfte eine erste Klasse leiten, von der Schulleitung gab es Lob, jetzt will das Schulamt Gütersloh die Vertretungslehrerin nicht mehr beschäftigen. Dabei werden Lehrkräfte dringend gesucht. Wie passt das zusammen?
Schicksal einer Lehrerin: Zwölf befristete Arbeitsverträge, jetzt Zwangsferien
Dixie Rolf hat in diesen Tagen viel Zeit. Sie könnte Cello üben, sie spielt das Instrument, seit sie ein Kind war. Sie könnte in ihrem Garten Gemüse ziehen oder endlich mal ein gutes Buch lesen. Aber Dixie Rolf will das alles nicht.
Die 48-Jährige aus Verl, einer kleinen Stadt in Ostwestfalen, möchte in ihr Auto steigen, 40 Minuten über die B513 an die Kardinal-von-Galen-Schule in Harsewinkel fahren, wie sie es in den vergangenen Jahren fast täglich getan hat. Sie möchte mit Achtjährigen einen Kanon einstudieren, mit Neunjährigen das Musikmärchen »Peter und der Wolf« anhören und mit Sechsjährigen auf Plastikeimern trommeln. »Ich bin mit ganzem Herzen Musiklehrerin«, sagt Dixie Rolf.
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Doch sie darf nicht unterrichten. Das Schulamt Gütersloh will sie nicht mehr beschäftigen. Seit Beginn des Halbjahrs im Februar hat sie Dauerferien, gezwungenermaßen.
Feuerwehr für unterbesetzte Schulen
Dixie Rolf ist – oder besser: war – Vertretungslehrerin im Angestelltenverhältnis, eine von mehr als 13.500 allein in Nordrhein-Westfalen. Sie sind eine Art Feuerwehr für unterbesetzte Schulen. Sie springen ein, wenn andere Lehrkräfte längerfristig erkranken, Sabbaticals oder Elternzeit antreten. Die Arbeitsverhältnisse sind in der Regel befristet, »mit dem Sachgrund der Vertretung«, wie es im Behördendeutsch heißt.
Die Länder setzen dieses Instrument unterschiedlich ein, wie eine Umfrage des SPIEGEL unter den Kultusministerien ergab. »Diese Praxis gibt es in Sachsen nicht«, heißt es aus Dresden. Es fehle nicht an unbefristeten Stellen, sondern an Bewerbern. Auch Thüringen schreibt: keine Vertretungslehrkräfte im Freistaat. »Das Thema entfällt für uns.« Mecklenburg-Vorpommern gibt an, Vertretungslehrkräfte grundsätzlich unbefristet anzustellen. Sie seien dauerhaft einer Stammschule zugeordnet und würden von dort aus zeitweise an Schulen im Umkreis entsandt.
Ein Werkzeug, um Unterrichtsausfall zu verhindern
Anderswo sind befristet angestellte Vertretungskräfte ein wichtiges Werkzeug, um kurzfristig Unterrichtsausfall zu verhindern. In Bayern hat sich ihre Zahl in den vergangenen fünf Jahren auf gut 9500 fast verdoppelt, in Baden-Württemberg ist sie zwischen 2019 und 2023 um gut 20 Prozent gestiegen, in Niedersachsen um ein Drittel.
Oft sind es Studierende, die neben dem Studium oder in den Semesterferien jobben, oder pensionierte Lehrkräfte, die an ihre alte Schule zurückkehren. Und es gibt Menschen wie Dixie Rolf: Sie hat Deutsch und Musik auf Lehramt studiert, hat das erste Staatsexamen abgelegt. Als sie sich zum Referendariat anmeldete, wurde sie schwanger, verschob den Vorbereitungsdienst und das zweite Staatsexamen auf später. So erzählt sie es.
Im Jahr 2015, die drei Kinder waren inzwischen »aus dem Gröbsten raus«, stand Dixie Rolf erstmals wieder vor einer Klasse: 30 junge Erwachsene, die meisten von ihnen Männer. Sie kamen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und wollten Deutsch lernen. Die örtliche Volkshochschule hatte dringend Personal gesucht. »Für mich war das eine tolle Erfahrung«, sagt Rolf.
Zwölf Verträge in nur drei Jahren
Als die Integrationskurse wegen der Pandemie ausfielen, bewarb sie sich an Grundschulen. Auf dem Stellenportal des Landes Nordrhein-Westfalen stieß sie auf ein Angebot: eine Grundschule in der Nähe habe eine Vertretungslehrerin für das Fach Musik gesucht, sechs Monate. Rolf traf die Schulleiterin zum Vorstellungsgespräch und sei sofort eingestellt worden. »Ich war sehr glücklich darüber«, sagt sie. »Damals.«
Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sah: Sie hatte sich in eine Sackgasse manövriert. In den folgenden drei Jahren unterschrieb sie weitere elf Verträge an zwei verschiedenen Schulen, die meisten mit zwei oder drei Monaten Laufzeit.
»Ich lebte in Dauerunsicherheit«, sagt Dixie Rolf. Manchmal habe sie ihre Schüler freitags ins Wochenende verabschiedet und nicht gewusst, ob sie am kommenden Montag noch einen Job habe. »Ich habe versucht, mir vor der Klasse nicht anmerken zu lassen, wie prekär meine Situation ist.« Natürlich habe sich das auf den Unterricht ausgewirkt. »Unterrichtsreihen über mehrere Wochen konnte ich kaum planen – ich wusste ja nie, ob ich sie zu Ende führen kann.«
Zwölfmal innerhalb von sechs Jahren darf ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit Sachgrundbefristung verlängern, dann wird eine sogenannte Missbrauchskontrolle fällig. So hat es das Bundesarbeitsgericht 2016 entschieden. Die Kontrolle soll Arbeitnehmer vor unnötigen Kettenbefristungen schützen und vor der Unsicherheit, die oft damit einhergeht. Für Lehrkräfte wie Dixie Rolf bedeutete es das Ende einer Schulkarriere. Viele Arbeitgeber wollen sich nicht auf rechtliches Glatteis begeben und verzichten lieber auf die Arbeitskräfte.
7100 unbesetzte Stellen allein in Nordrhein-Westfalen
Nur: Wie passt das zum viel beklagten Lehrermangel? Bis zum Jahr 2025 fehlen in Deutschland nach Angaben der Kultusministerkonferenz rund 25.000 Lehrkräfte, bis 2035 soll die Lücke auf 68.000 wachsen. Allein das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen meldete im Dezember 7100 unbesetzte Stellen. Musik gilt als Mangelfach, zumal an Grundschulen.
Die Not ist so groß, dass Schulministerin Dorothee Feller (CDU) im Dezember 2022 ein »Handlungskonzept Unterrichtsversorgung« vorlegte. Sie will etwa die Anzahl der Klassenarbeiten in der Jahrgangsstufe zehn verringern, um Lehrkräfte zu entlasten, und Anträge auf Teilzeitarbeit »intensiver prüfen«. Und sie will mehr Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger an Schulen holen – Menschen, die keine formale Qualifikation für den Lehrerjob mitbringen.
Weit hinten im Konzept findet sich der Punkt »Entfristungen«, dort heißt es: »Personen, die an Schulen in einem befristeten Tarifbeschäftigungsverhältnis bereits als Lehrkraft unterrichten, wird die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag auf Übernahme in ein Dauerbeschäftigungsverhältnis zu stellen.« Das gelte für Bewerberinnen und Bewerber, die mindestens einen Bachelorabschluss mitbringen und wenigstens drei Jahre an einer Schule unterrichtet haben.
»Stets pünktlich und zuverlässig«
Dixie Rolf stellte einen Antrag. In einer Stellungnahme schwärmt ihre Schulleiterin von Rolfs »tadellosen« Verhalten, beschrieb sie als ein »geschätztes Mitglied des Kollegiums«, »stets offen, ausgeglichen und zugewandt«. Sie versehe ihren Dienst »stets pünktlich und zuverlässig«.
Ihre Schulleitung habe immer versucht, sie zu unterstützen und ihr eine Perspektive zu bieten. Das zu betonen, ist Dixie Rolf wichtig. »Mir wurde immer signalisiert: Du machst das gut, wir wollen dich gern behalten.« Im Sommer 2022 wurde ihr die Leitung einer ersten Klasse übertragen, sie durfte 26 Mädchen und Jungen bei ihrem Eintritt ins Schulleben begleiten. »Ich habe mich wahnsinnig über diese Aufgabe gefreut«, sagt Rolf.
Dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihren zehnten Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, sei ihr klar gewesen, sagt sie. »Aber ich habe darauf vertraut, dass es mit der Entfristung klappt.« Warum sonst sollte man ihr 26 Erstklässler anvertrauen?
Doch Dixie Rolf bekam eine Absage. »Ich habe die Welt nicht mehr verstanden«, sagt sie. »Ich konnte es auch den Kindern nicht erklären.« Sie vermisse sie sehr.
Auf Anfrage des SPIEGEL verweist das Schulamt an die nächsthöhere Ebene, die Bezirksregierung in Detmold. Die wiederum beruft sich auf das Schulministerium in Düsseldorf. »Der Lehrkräftemangel ist regional unterschiedlich ausgeprägt«, heißt es dort. Der Regierungsbezirk Detmold gehöre »zu den vergleichsweise gut ausgestatteten Regionen«. Eine Entfristung könne nur erfolgen, wenn es an der Einsatzschule eine freie und besetzbare Stelle gebe. »Ein Anspruch auf Übernahme besteht nicht.«
150 Lehrkräfte entfristet
Nach Angaben des Schulministeriums wurden seit Dezember 2022 rund 150 Lehrkräfte gemäß dem »Handlungskonzept Unterrichtsversorgung« entfristet, vier davon im Regierungsbezirk Detmold.
Dixie Rolf hat nun geklagt. Die Verhandlung ist für Juli angesetzt. Mit ihrer dritten Klasse hatte sie im Winter ein Musical einstudiert. Das Stück wurde nie aufgeführt. »Wir haben es zeitlich nicht mehr geschafft.«
Seit sie die Schule verlassen musste, haben diese Jungen und Mädchen keinen Musikunterricht mehr. Stattdessen bekommt die Klasse nun zwei Stunden mehr Sachunterricht pro Woche, »mit Genehmigung des Schulamtes«, wie die Schulleiterin schreibt. Statt »Peter und der Wolf« erarbeiten die Kinder nun »das Internet-ABC«.