Russland: Warum der Krieg für Putin zum Generationenprojekt geworden ist
Tajik President Emomali Rakhmon, Russian President Vladimir Putin and Kazakh President Kassym-Jomart data-portal-copyright=
Der russische Staat militarisiert schon die Jüngsten, der Krieg ist für Putin längst zur Generationenfrage geworden. Die Unterstützung dafür basiert auch auf wirtschaftlichen Faktoren.
Es schneit in Moskau, die Temperaturen liegen nur knapp über dem Gefrierpunkt, als Russlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag die alljährliche Militärparade zum Gedenken an den russischen Sieg über Nazideutschland zum Ende des Zweiten Weltkriegs abnimmt.
Doch seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 rückt die Trauer um die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen in den Hintergrund, die Ehrung von Veteranen spielt nur noch eine vergleichsweise kleine Rolle. Stattdessen steht der „Tag des Siegs“, wie der 9. Mai in Russland genannt wird, ganz im Zeichen des Kriegs gegen die Ukraine – und der Konfrontation mit dem Westen.
Schon Wochen zuvor haben Russinnen und Russen im ganzen Land begonnen, sich auf die Feierlichkeiten vorzubereiten: Sie übten Lieder ein, spielten die Parade in Schulen durch, dekorierten die Innenstädte mit Fahnen, auf denen groß „Sieg!“ zu lesen ist. Kinder in Uniform marschieren zu Militärmusik, stolze Eltern und Lehrer stellen die Videos ins Netz.
Schon die Jüngsten werden auf den Dienst an der Waffe eingestimmt
Für Putin ist der Krieg längst zur Generationenfrage geworden, schon die Jüngsten werden in Russland auf den Dienst an der Waffe eingestimmt. Die Unterstützung dafür basiert auch auf wirtschaftlichen Faktoren, argumentieren Experten. Denn die Kriegswirtschaft habe einigen gesellschaftlichen Gruppen zu einer besseren wirtschaftlichen Lage verholfen.
In seiner Rede auf dem Roten Platz warnte der Kremlchef zunächst vor einer weiteren Eskalation im Krieg gegen die Ukraine, den er selbst begonnen hat. „Russland wird alles tun, um eine globale Konfrontation zu verhindern, aber wird nicht zulassen, dass uns jemand bedroht“, sagte er. „Unsere strategischen Truppen sind jederzeit in Kampfbereitschaft“, so der Kremlchef weiter. Putin lobte außerdem den Kampf der russischen Armee in der Ukraine.
Westlichen Staaten warf er vor, „regionale Konflikte“ und „Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen und Religionen“ zu schüren. In der Hauptstadt werden derweil westliche Panzer und anderes Militärgerät, das die russische Armee offenbar in der Ukraine an sich genommen hat, öffentlich zur Schau gestellt, darunter auch ein deutscher Leopard-Panzer.
Schon Wochen vor Beginn der offiziellen Feierlichkeiten klebten Cafébesitzer und Betreiber von Restaurants oder Bekleidungsgeschäften im Moskauer Zentrum großflächige Sticker mit Siegesparolen auf die Schaufenster, schmückten Bars mit Fahnen in Anlehnung an das Sankt-Georgs-Band. Kein ungewöhnliches Bild im Russland dieser Tage sind Kinder, die in Spielzeugpanzern neben ihren Eltern die breiten Gehwege entlangfahren, während sich ihre älteren Geschwister im Spiel mit Plastikwaffen bekämpfen.
Eine „Armee der Kinder“
Längst ist klar, was die Feierlichkeiten zum „Tag des Siegs“ einmal mehr verdeutlichen: Putin scheint den Krieg gegen die Ukraine nicht mehr als singuläres Ereignis zu sehen, das nach Erreichen eines bestimmten Ziels abgeschlossen sein könnte. Stattdessen bereitet er Generationen in Russland auf eine Zukunft mit Krieg vor. „Der Tag des Siegs vereint alle Generationen“, sagte Putin in seiner Rede.
Und tatsächlich setzen die russischen Behörden immer stärker darauf, schon die Kleinsten auf den Dienst in der Armee vorzubereiten. Als Teil der staatlich organisierten Ausstellung „Russland – Land der Möglichkeiten“ führen Mitarbeiter Kinder aller Altersklassen durch den Pavillon „Armee der Kinder“, machen schon Fünf- oder Sechsjährigen Berufe bei den Streitkräften schmackhaft.
Frauen, so Putin Anfang des Jahres, sollten am besten acht Kinder bekommen, die russisch-orthodoxe Kirche spricht sich immer lautstarker gegen Abtreibungen aus. Laut Putin, so betont er es in seiner Rede, schreitet Russland voran, indem es sich auf seine jahrhundertealten Traditionen verlässt. In Schulen und Universitäten werden derweil die Lehrpläne geändert, um in diesem Sinne den nationalistischen Vorstellungen des Staats gerecht zu werden.
Für den Moskauer Politikexperten Andrei Kolesnikov, Senior Fellow bei der Stiftung Carnegie Endowment for International Peace, ist die russische Staatsideologie von heute am besten als nationalistisch-imperialistisch zu beschreiben. In einer Analyse, die er mit dem Leiter des russischen Meinungsforschungsinstituts Levada, Denis Volkov, veröffentlichte, erklärt er die anhaltende Unterstützung vieler Russen für den Krieg damit, dass diese ihr Land mit dem politischen Regime gleichsetzten. Sie „glauben, es sei ihre Pflicht, das Handeln des Staats zu unterstützen“, so Volkov und Kolesnikov, außerdem seien die Auswirkungen des Kriegs für viele Menschen innerhalb Russlands wenig spürbar.
Militärinvestitionen als Konjunkturspritze
Das hat auch wirtschaftliche Gründe: Entgegen vielen Vorhersagen von Februar und März 2022, die einen Einbruch der russischen Wirtschaft unter westlichen Sanktionen prophezeiten, wächst die russische Wirtschaft noch immer, wenn auch mittlerweile etwas langsamer.
Politökonom Sebastian Hoppe von der Freien Universität Berlin verweist in diesem Kontext auf das Konzept des militärischen Keynesianismus: „Russland hat die Militärausgaben massiv hochgefahren, was jetzt als Stimulus für andere Teile der Wirtschaft wirkt.“ Das führe insgesamt zu einem makroökonomischen Aufschwung.
Hoppe zufolge führt die Konjunkturspritze aber auch zu einer gewissen Umverteilung. So würden nun „neue Trägergruppen des kriegstreibenden Putinismus“ in der Bevölkerung entstehen. Wer direkt fürs Militär arbeitet, wird vom Staat für russische Verhältnisse sehr gut bezahlt, Angehörige von Gefallenen eingeschlossen. Wer in der Rüstungsindustrie oder anderen fürs Militär relevanten Branchen arbeitet, profitiert aktuell von Lohnsteigerungen. Und zivile Branchen müssen mit der Bezahlung nachziehen, weil ihnen sonst die Arbeitskräfte in Richtung Rüstungsindustrie davonlaufen.
„So entstehen neue Gruppen, deren Einkommen von dem höheren Militärbudget abhängig ist und die dementsprechend auch ein Andauern des Kriegs unterstützen.“ Diese hätten ein pragmatisches Interesse, die Führung des Lands zu unterstützen.
Das ist für Hoppe allerdings abzugrenzen von schlichtem Wirtschaftsnationalismus. „Hinter Wirtschaftsnationalismus, den wir auch in vielen anderen Staaten sehen, steht üblicherweise eine längerfristig angelegte Strategie zur Förderung heimischer Produktion.“ Bei der aktuellen Entwicklung in Russland habe er eher den Eindruck, die hohen Militärausgaben seien „eine politische Notwendigkeit für Putin“ – und alles andere unbeabsichtigte Nebeneffekte.
„Von der militärischen Früherziehung in Russland, dem Umschreiben der russischen Geschichte, dem Herausstellen der militärischen Leistung bis hin zum Militär als Investitionsfeld funktioniert die Armee mittlerweile als wichtige Achse, um die sich das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben dreht“, ist Hoppe überzeugt. Dafür stehe symbolisch auch der 9. Mai. „Früher ging es dabei noch mehr um Veteranen, die kollektive Trauer. Dieser Teil ist fast komplett weggefallen“, sagt er. „Im Prinzip sehen wir nun eine Verherrlichung des Militärs, das auch ökonomisch zum Dreh- und Angelpunkt geworden ist“.