Ein Sieg für die Versehrten

Am Donnerstag haben Rebellen in Myanmar die Grenzstadt Myawaddy eingenommen. Ein Triumph über die Junta – doch wie geht es nun weiter? Ein Besuch in einem Safe House an der Grenze.

ein sieg für die versehrten

Szene in einem Aussenposten der Armee im Bundesstaat Kayin in Myanmar.

Ko Khant hat eine Hand verloren im Kampf gegen das Militärregime in Myanmar, aber er ist trotzdem blendender Laune heute. Am frühen Donnerstagmorgen haben Rebellen die wichtige Grenzstadt Myawaddy eingenommen, die Soldaten der Junta mussten sich auf die Freundschaftsbrücke zurückziehen, die Myanmar mit Thailand verbindet.

Nur wenige Kilometer entfernt öffnet Ko Khant (23) mit seinem Unterarmstumpf das Tor zu einem Safe House.

Hier sollen 120 Widerstandskämpfer wieder leben lernen, nachdem sie zerschossen, gejagt und mit Bomben beworfen worden sind – von einem Militär, das am 1. Februar 2021 mit einem blutigen Putsch die Macht an sich riss und damit den Bürgerkrieg auslöste.

Die jungen Männer, die in dem Safe House untergebracht sind, fahren in Rollstühlen umher, tragen die Arme in Schlingen, humpeln an Krücken. Einer hat einen Schuss in den Kopf erlitten und muss gefüttert werden. Früher diente er im Militär, dann wollte er nicht mehr Krieg gegen das eigene Volk führen und desertierte. Das hat er beinahe mit dem Leben bezahlt.

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Der 23-jährige Ko Khant.

«Wir unterteilen die Männer in drei Gruppen, je nach Ausmass der Verletzung», sagt Nay Chi Lin. Die 37-Jährige leitet das Safe House. Ihren Namen darf man nennen und auch ihr Bild zeigen, «die Spione des Militärs wissen ohnehin, wer ich bin», sagt sie und lacht. Nur die genaue Adresse des Hauses, das irgendwo in dem thailändischen Grenzort Mae Sot steht, solle man bitte nicht erwähnen.

Ihr Mann ist Kommandant bei der Karen National Union, einer der bewaffneten ethnischen Gruppen in Myanmar, die dem Militärregime nie getraut haben, auch nicht in den zehn Jahren zarter Demokratiebemühungen von 2011 bis 2021. Das Paar hat drei Kinder, vierzehn, acht und sechs Jahre alt. Alle paar Tage kommt ihr Mann über die Grenze, sie weiss also, wie es ihm geht.

Nay Chi Lin fegt die Physiotherapiestation mit einem fächerförmigen Thai-Besen und geht zwischendurch immer wieder an ihr Smartphone. Minütlich gehen neue Nachrichten ein. Gute Nachrichten, die Rebellengruppen haben in den vergangenen Tagen viele Erfolge erzielt. «Es ist sehr aufregend!», sagt sie, und man merkt es auch den Einarmigen und Einbeinigen an, dass sie hier gerade ein wenig feiern.

Ein junger Mann in einem T-Shirt der britischen Rockband Arctic Monkeys schiebt seinen Kameraden, dem ein Arm fehlt, durch die Anlage zum Krafttraining.

Alle wollen sie wieder in den Krieg gegen die Junta ziehen. Logisch, sie sind schliesslich hierhin geraten, weil sie sich dem Widerstand angeschlossen haben. Doch die Männer müssen lernen, dass sie nicht mehr mit der Waffe gegen die verhassten Soldaten und Generäle kämpfen können, sondern zum Beispiel nur noch mit dem Kochlöffel.

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Leitet das Safe House: Die 37-jährige Nay Chi Lin.

«Wir bringen ihnen hier Kochen bei, denn einer von ihnen war vor dem Putsch ein Koch. Wir schulen sie zu Krankenpflegern um und sogar zu Tätowierern», sagt Nay Chi Lin. «Wir müssen ihnen beibringen, dass das auch einen Wert hat in einer Gesellschaft, in der jeder etwas zum Gelingen beiträgt.» Es komme regelmässig ein Psychiater vorbei. Und sie selbst? «Ich habe Gott.»

Sie geht wieder an ihr Smartphone, neue Nachrichten. Etwa 200 myanmarische Soldaten, die Myawaddy aufgegeben haben und nicht von den Rebellen gefangen genommen wurden, wollen Asyl in Thailand suchen. Wo sonst sollten sie auch hin? Bei ihren Landsleuten sind sie verhasst, ihren Kameraden bei der Militärjunta haben sie Schande bereitet, deshalb fürchten sie sich davor, zurück in ihre Heimat zu gehen. Schliesslich hat die Junta das Land immer noch im Griff. Allerdings: Die Kontrolle in den Randgebieten entgleitet der Junta. Das merkt man auch daran, wie nervös die Reaktion in Thailand ausfällt.

Thailand teilt mit Myanmar eine etwa 2000 Kilometer lange Grenze.

Auf der Freundschaftsbrücke zwischen Mae Sot und Myawaddy, die beide Länder über den Fluss Moei hinweg verbindet, ist es am Donnerstagmittag ruhig. LKW und fahrende Händler werden abgefertigt, myanmarische Soldaten sind keine zu sehen. Das thailändische Aussenministerium war in der vergangenen Woche ins Schwimmen geraten, als Journalisten genauer wissen wollten, welchen Menschen aus Myanmar die Regierung eine Landeerlaubnis auf dem kleinen Flughafen von Mae Sot erteilt hat. Das Ministerium sprach schwammig von «Personal», es wurde vermutet, dass ranghohe, reiche Militärs ins Nachbarland geflüchtet waren. Thailand, wo das Militär ebenfalls häufig putscht, allerdings erfolgreicher, unterhält traditionell gute Beziehungen zur Junta in Myanmar.

Die thailändische Regierung bereitet sich gerade darauf vor, kurzfristig etwa 100’000 zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, weil Myanmars Junta im Grenzgebiet zu Thailand Bombenangriffe auf Dörfer fliegt, in denen sie Rebellen vermutet.

Wenn so etwas geschieht, laufen die Kliniken in Mae Sot voll, und auch Nay Chi Lin muss sehen, wie viele Männer sie noch unterbringen kann. Das Safe House, das sich nur durch Spenden finanziert, platzt aus allen Nähten.

Sie zeigt die Trainingsmaschine im Kraftraum für die Rekonvaleszenten, ein Geschenk «vom japanischen Volk», so steht es auf einem Aufkleber. Als der Bürgerkrieg eskaliert sei, habe ihr Mann einigen Menschen das Leben gerettet, unter anderem einem Japaner. «Der hat dann seine Regierung gebeten, etwas zu spenden», erzählt sie. Die Anlage zu betreiben, kostet etwa 5000 Euro im Monat, der grösste Teil wird in die Verpflegung der Männer investiert. «Gutes Essen ist für Verletzte fast so wichtig wie gute Medizin», sagt Nay Chi Lin.

Der Bürgerkrieg in Myanmar wurde im Westen rasch vergessen. Stattdessen rückten dort der Krieg gegen die Ukraine, der Terror der Hamas und die brutalen Gegenschläge Israels ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Südostasien aber schwelt dieser Bürgerkrieg wie eine offene Wunde. Myanmar hat neben Thailand noch Grenzen zu China, Bangladesh und Indien. All diese Nachbarn sind in Mitleidenschaft gezogen, nicht nur durch die Flüchtlingsströme. Insbesondere in China, das lange seine schützende Hand über die Putsch-Generäle hielt, ist man besorgt, weil immer mehr Online-Betrugszentren von Myanmar aus chinesische Bürgerinnen und Bürger attackieren. Dass Peking vor diesem Hintergrund die Aktivitäten von Widerstandsgruppen zumindest teilweise duldet, ist sehr wahrscheinlich.

Da die Rebellen Tausende Soldaten des Regimes getötet haben und immer mehr Armeeangehörige desertieren, hat das Militär vor wenigen Wochen eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Doch diese Massnahme scheint nur noch mehr junge Männer in die Reihen der Rebellen zu treiben ­– wenn schon sterben, dann lieber auf der richtigen Seite. Mit der Einnahme von Myawaddy befindet sich nun die wichtigste Handelsroute zwischen Myanmar und Thailand in der Hand der Rebellen. Das Staatsgebilde, das Myanmar genannt wird und aus vielen Völkern besteht, könnte in den kommenden Wochen mehr und mehr zerfallen.

«Wir müssen mit allen Seiten sprechen», sagte Thailands Premierminister Srettha Thavisin in der vergangenen Woche, als die grenznahen Kämpfe heftiger wurden. Die Frage ist nur, ob es für Gespräche nicht zu spät ist.

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Der thailändische Premier Srettha Thavisin.

Nay Chi Lin ist in Myanmars grösster Stadt Yangon aufgewachsen. Auch da hatten die Menschen keine hohe Meinung vom Militär, aber sie glaubte eine Zeit lang, es gebe in der Armee noch so etwas wie Vernunft oder Ehrgefühl. Dann zog sie zu ihrem Mann in den Verwaltungsbezirk Karen-Staat an der thailändischen Grenze. Als das Militär putschte, mussten sie über den Fluss flüchten. «Sie haben von hinten auf mich geschossen, auf Frauen und Kinder, die um ihr Leben gelaufen sind», erinnert sie sich. Ein Nachbarsjunge, der taub war und ihre warnenden Rufe nicht hören konnte, wurde von den Soldaten umgebracht. Seitdem ist sie überzeugt: «Das sind Monster.»

Jeden Tag versucht Nay Chi Lin, die Versehrten auf ein Leben nach dem Bürgerkrieg vorzubereiten. Was erhofft sie sich selbst von der Zukunft? «Ich wünsche mir nichts mehr», sagte sie und lacht wieder. «Ich freue mich über jeden Tag, an dem ich aufwache, etwas zu essen habe und den Menschen hier helfen kann.» Für ihre Kinder aber hat sie doch einen Wunsch. Ein freies, demokratisches Myanmar, in dem die Familie wieder leben kann – dort drüben, nur ein paar Kilometer weiter, doch derzeit unerreichbar.

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