Raubkatzen balancieren über einen 17 Meter langen Steg
Löwen, Tiger und Schneeleoparden müssen künftig regelmässig zügeln. Manchmal mehrmals pro Tag. Und wenn sie nicht schnell genug reagieren, werden sie Hunger leiden.
Eine 17 Meter lange Baumstammbrücke wird zum Scharnier zwischen den Raubtieranlagen. Sie wird noch mit einem Netz umgeben.
Das Leben der Raubtiere im Zoo Zürich wird spannender, aber auch anstrengender. Bald werden nämlich Löwen, Tiger und Schneeleoparden regelmässig ihre Anlagen wechseln. Damit erhalten sie neue Reviere, die sie frisch erkunden, beschnüffeln und markieren müssen.
Um dies zu ermöglichen, wurde Ende letzte Woche im oberen Teil des Zoos eine 17 Meter lange Brücke montiert. Sie wird als Scharnier zwischen der ehemaligen Wolfsanlage und den Gehegen der Löwen, der Tiger sowie der Schneeleoparden funktionieren.
Durch Schieber lässt sich steuern, welche Bereiche miteinander verbunden sind. So können die Grosskatzen zwischen den vier Hauptbereichen ihres neuen Lebensraums rotieren, ohne dass sie sich in die Quere kommen. Dieser Wechsel wird regelmässig, manchmal mehrmals pro Tag vorgenommen.
Balance halten
Der Steg ist eine Spezialanfertigung einer Bündner Stahlbaufirma. Er wird noch mit einem Gitter umspannt. Bereits der Übergang, also der eigentliche Catwalk, stellt die Tiere vor eine Herausforderung. Sie müssen nämlich auf einen Baumstamm balancieren und dabei die herausstehenden Äste umgehen.
Am Mittwochmorgen wurden die Neuerungen in der Raubtieranlage Panterra den Medien vorgestellt. Zoodirektor Severin Dressen ist überzeugt, dass dies dem Tierwohl zugutekommt. «Für die Raubkatzen ist das spannend und herausfordernd zugleich.»
Die Schneeleoparden (hier Saida und Warjun) leben im Moment in anderen Zoos.
Drei Futter-Seilbahnen
Damit nicht genug: Die Katzen müssen künftig auch ihrem Futter hinterherjagen. In der neuen Anlage werden nämlich drei Seilbahnen montiert, mit denen das Fleisch blitzschnell durch die Anlage gezogen wird.
Die Fleischstücke, manchmal auch ganze tote Futtertiere, werden ausserhalb der Anlage befestigt und schweben in der Luft, sodass die Tiger, Löwen oder Leoparden der Beute nachsetzen müssen. Sie müssen sie anspringen, sich krallen und runterreissen.
Wann die Seilbahn Futter bringt, entscheiden die Tierpflegerinnen und Tierpfleger situativ. «Raubkatzen sind schlau, sie durchschauen einen regelmässigen Essensrhythmus innert kurzer Zeit», sagt Dressen. Dann würde der Effekt, dass sie immer im Jagdmodus sein müssen, verpuffen.
Reagieren sie nicht schnell genug, gehen sie leer aus. Aus die Maus – denn das Futter wird über das Gitter weggezogen. Bei diesem neuen Futterregime kann es vorkommen, dass ein Tier manchmal einige Tage nichts zu fressen bekommt. Denn vorgesehen ist, dass die Fütterung der Raubtiere hauptsächlich so erfolgt.
Bald müssen sich die Amurtiger im Zoo Zürich (hier Sayan) mehr anstrengen, um zu ihrem Futter zu kommen.
Dressen begründet auch diese Massnahme mit dem Tierwohl. Denn: «Wir haben unseren Raubkatzen bisher das Element des Scheiterns vorenthalten.» Tatsächlich ist in der Wildnis im Schnitt nur eine von zehn Jagden erfolgreich. Raubtiere müssen also ziemlich frustresistent sein. Und sie sind in der Lage, auf Vorrat zu fressen und dann wieder längere Zeit zu fasten.
Und wenn die verwöhnten Zookatzen verlernt haben zu jagen? «Haben sie nicht», kann Dressen beruhigen. «Der Jagdinstinkt ist angeboren.» Allerdings sei es durchaus spannend, zu beobachten, wie die Tiere auf den Wechsel der Anlagen und die Futterjagd reagierten.
Kaum Vorbilder
Es gebe zwar gewisse Erfahrungen in anderen Zoos mit Wölfen und Bären, die regelmässig ihre Gehege tauschen. «Doch drei Raubkatzenarten in vier Bereichen – das kenne ich von keinem anderen Zoo», sagt der Zoodirektor. Auch diese Art von Futterjagd sei noch nicht erprobt.
«Wir sind aber bei Katzen ziemlich gut darin, zu erkennen, ob sie sich wohlfühlen oder nicht», gibt Dressen zu bedenken. Das werde helfen, rechtzeitig zu reagieren, wenn das System angepasst werden müsse.
Eröffnung im kommenden Frühling
Demnächst werden die vereinigte Anlage und die Brücke begrünt. Doch dauert es ein paar Monate, bis die Pflanzen eingewachsen sind. Die Tiere sind während der Bauzeit in andere Zoos abgegeben worden. Sie ziehen voraussichtlich im Frühling 2025 ein.
Asiatischer Löwe: Ob die Löwin Jeevana, die im vergangenen August in einen ungarischen Zoo gebracht wurde, zurückkehrt oder durch ein anderes Weibchen ersetzt wird, ist noch nicht klar.
Dabei ist gut möglich, dass nicht die vorherigen Raubkatzen zurückkehren. Dieser Entscheid liegt bei den Fachpersonen, welche die Haltung von Amurtiger, Asiatische Löwen und Schneeleoparden in Europa koordinieren.
Dressen geht davon aus, dass dem Zoo Zürich wieder je ein Paar von Schneeleoparden und Amurtigern sowie ein kleines Rudel von Löwen zugesprochen wird. Der Zoo würde auf alle Fälle gern wieder züchten.
Neue Ansichten fürs Publikum
Auch für die Besucherinnen und Besucher bedeuten diese Neuerungen in der Panterra-Anlage mehr Abwechslung. Löwen, Tiger und Schneeleoparden sind immer wieder in neuer Umgebung zu beobachten.
Und wer das Glück hat, bei einer Futterjagd zuschauen zu können, erlebt die oft träge herumliegenden Tiere von einer ganz anderen, eleganten Seite. Auch wird man beim Catwalk die Tiere von einer neuen Perspektive aus sehen können, denn der Steg führt in 4,5 Meter Höhe über den Besucherweg hinweg.
Insekten ziehen ins Löwenhaus
Das ehemalige Löwenhaus befindet sich im Moment im Umbau. Es werde künftig etwas weniger grosse und weniger charismatische Tiere als Löwen beherbergen, erklärte Severin Dressen vor den Medien. «Sie sind aber ebenfalls stark bedroht und für die Biodiversität enorm wichtig.»
Die etwas umständliche Einleitung des sonst eloquenten Zoodirektors lässt erahnen: Es werden keine spontanen Sympathieträger einziehen. Sondern Käfer, Hundertfüsser, Stabheuschrecken und Spinnen. Und zwar hautnah und ohne Trennscheibe. Die Besucherinnen und Besucher werden sich mit ihnen in einem grünen Raum aufhalten. Wenn sie das wollen.
Bald im Zoo Zürich zu beobachten: Australische Gespenstschrecke.
Entschieden hat man sich vor allem für bedrohte tropische Insekten- und Spinnenarten. Und solche, die nicht fliegen oder zumindest flugfaul sind, damit sie sich nicht verflüchtigen. Sollte doch einmal ein Käfer davonkrabbeln, werde er den nächsten Winter bestimmt nicht überleben, versichert der Zoodirektor.
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