Das Politische Buch: Der Humanist als Brückenbauer

das politische buch: der humanist als brückenbauer

Dachauer Bürger, Münchner Historiker, Kenner Russlands: Jürgen Zarusky 2018 bei einem Vortrag in Dachau.

Vor fünf Jahren starb der Münchner Historiker und Russlandexperte Jürgen Zarusky. Ein Aufsatzband würdigt dessen Arbeit und führt sie fort. Über einen außergewöhnlichen Menschen, der Wissenschaft und Empathie vereinte.

Der Humanist als Brückenbauer

Fünf Jahre nun also schon. Man konnte nicht mehr nachfragen, wie er Wladimir Putins brutalen Angriff auf die Ukraine einschätzte; warum die Deutschen eigentlich so wenig über die Geschichte der Ukraine wissen und noch weniger über die Gräueltaten der Deutschen dort, in Russland, in Belarus und in Transnistrien während des Vernichtungskriegs 1941 bis 1945. Und vor allem fehlte eine Stimme, die stets die Opfer von Unrecht und Gewalt in den Mittelpunkt zu rücken wusste . Vor fünf Jahren starb der Historiker und Russlandkenner Jürgen Zarusky – jüngst ist eine “Festschrift” erschienen, in der enge Wegbegleiter, Kolleginnen und Freunde seine Arbeit reflektieren, wertschätzen und weiterführen.

In der Lokalredaktion der Dachauer SZ lernte nicht nur Sybille Steinbacher, damals freie Mitarbeiterin, heute Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts und Professorin für die Geschichte des Holocaust in Frankfurt, den Lokalreporter Zarusky kennen, auch der Rezensent war als junger Zeilenschreiber schwer beeindruckt von der Akribie und der Klarheit dieses Autors. Später schon am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) angestellt, war der Dachauer Bürger Zarusky dann ein eifriger Leserbriefschreiber; selten las man Kommentare zur Lokalpolitik, die im Ton stets verbindlich, aber in der Kritik immer eindeutig waren, mit größerer Freude. Und zu Beginn der 1990er-Jahre gab es in der Tat viel zu kritisieren in Dachau – nicht zuletzt den oft schäbigen Umgang mit der KZ-Gedenkstätte von Seiten der Stadtpolitiker. Es herrschte nicht nur im Rathaus der Zeitgeist, man solle die zwölf Jahre Nationalsozialismus doch bitte im Kontext der 1200-jährigen Künstlerstadt nicht ganz so wichtig nehmen.

Das Engagement von Jürgen Zarusky für die Gedenkstätte kam also nicht von ungefähr, der Umgang des NS-Regimes mit den Häftlingen interessierte ihn vor allem als professioneller Wissenschaftler, aber auch menschlich war ihm der Kontakt mit den Überlebenden wichtig. Und so haben auch die langjährige Leiterin der KZ-Gedenkstätte, Barbara Distel (“Die Hoffnung auf Gerechtigkeit – Erinnerungen an fünf Überlebende des KZ Dachau”), und der Berliner Holocaust-Forscher, Wolfgang Benz (“Nürnberg und Jerusalem – Probleme der Ahndung des Zivilisationsbruchs”), der ebenfalls eine enge Beziehung zu Dachau hat, nun Aufsätze zu dem Sammelband mit dem Titel “Recht, Unrecht und Gerechtigkeit” beigesteuert.

Justiz zwischen Demokratie und Diktatur

Zaruskys zweites großes Themenfeld war die Geschichte der stalinistischen Sowjetunion. Wie wenige kannte er sich dort in den Archiven aus und hatte sich bald ein breites Netz von Gleichgesinnten aufgebaut; auch davon profitiert der Sammelband, wenn etwa Sergej Slutsch oder Pavel Polian ihre russische Perspektive und Forschungsergebnisse über die Außenpolitik der UdSSR in Bezug auf Polen im Jahr 1939 oder über den Umgang der Sowjetjustiz nach 1945 mit echten oder vermeintlichen Kollaborateuren der Nazis beisteuern.

Der Band wird zusammengehalten von der Frage nach den verschiedenen historischen Erscheinungsformen der politischen Justiz zwischen Demokratie und Diktatur. Es geht um das durchaus latent aktuelle Thema, wie Justiz als “Motor der Transformation von Recht in Unrecht” missbraucht oder benutzt wurde oder auch als “zentrale Institution bei der Aufarbeitung von staatlich organisierten Gewaltverbrechen” dienen kann.

das politische buch: der humanist als brückenbauer

Immer zugewandt: Jürgen Zarusky und der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer im Jahr 2005.

Einige der Beiträge nehmen auf Zaruskys Forschungen – Diktaturvergleich und Totalitarismusforschung sowie die europäische Erinnerungspolitik – und seine Einstellungen direkt Bezug. So erzählt etwa sein Kollege im IfZ, Johannes Hürter, wie sie zusammen eine “kleine Geschichte” über die Leningrader Blockade planten, die nun nicht zustande kommt. Aber Hürter macht anhand vieler kaum fassbarer Zahlen noch einmal die “exterminatorische Intention des deutschen Aggressors, der gezielt Hunger als Waffe einsetzte, um die sowjetische Metropole zu vernichten und zu entvölkern”, schmerzhaft klar.

Ein “verlässlicher Anker”

Das Schicksal von sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigte Zarusky über viele Jahre. Nicht zuletzt ihm ist es zu verdanken, dass auf dem ehemaligen SS-Schießplatz Hebertshausen, wo einst mehr als 4000 sowjetische Offiziere ermordet wurden und wo später Hebertshauser Kinder recht unbefangen zwischen Steinbunkern, Schießwällen und Patronenhülsen spielten, nach Jahrzehnten ein würdiger Gedenkort errichtet wurde. Und auch nach der Eroberung der Krim 2014 durch Putin, als das Verhältnis zu Russland deutlich abkühlte (aber weiterhin eifrig billiges Erdgas gekauft wurde), betätigte sich Jürgen Zarusky, so erinnert Hürter, weiterhin als “Brückenbauer” und blieb den befreundeten russischen Kolleginnen und Kollegen ein “verlässlicher Anker”.

das politische buch: der humanist als brückenbauer

Endlich ein würdiger Gedenkort: Der ehemalige SS-Schießplatz Hebertshausen.

Auch später kreuzten sich die Wege des IfZ-Historikers und des SZ-Redakteurs noch, etwa beim Thema der späten Entschädigung der Ghettorentner (auch hierzu ein spannender Aufsatz von Stephan Lehnstaedt im Sammelband) oder beim Kennenlernen des Richters Jan-Robert von Renesse, der bei den Klagen der Überlebenden aus den Ghettos einen ähnlich zugewandten Stil pflegte wie der Gutachter Zarusky und darum den Bürokraten der Rentenversicherungen und auch vielen Richterkollegen als Ärgernis galt, weil er den alten Menschen einfach zuhörte und nicht aus den Akten entschied. Oder später bei den Rezensionen auf der Seite “Das Politische Buch”, denen oft lange, stets gewinnbringende Telefonate vorangingen. Als Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte war Zarusky dem Publikationswesen treu geblieben. Die Klarheit seines Schreibens war noch geschärft worden, ebenso die Klarheit der Kritik, gern gepaart mit sanfter Ironie.

Wider die Vereinfacher

Jürgen Zarusky mochte nicht die Vereinfacher, die Schwarz-Weiß-Maler mit steilen Thesen und Kollegen, die alles auf ein vorbestimmtes Ende zulaufen sehen. Jürgen Zarusky bestand auf den Grautönen, auf Differenzierung und der Offenheit von Geschichte. Dass man genau hinsehen muss, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Jürgen Zarusky mochte die Akten, aber noch mehr die Menschen. Er saß gern im Elfenbeinturm (das Gebäude des IfZ ist freilich das Gegenteil davon) der Wissenschaft, aber ebenso gern begegnete er den Menschen, die Geschichte erlitten und erlebt hatten. Von all dem atmet der Band etwas in all seinen sehr unterschiedlichen Themen.

das politische buch: der humanist als brückenbauer

Annette Eberle/Thomas Schlemmer/Susanna Schrafstetter/Alan E. Steinweis (Hrsg.): Recht, Unrecht und Gerechtigkeit. Politische Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Für Jürgen Zarusky. Metropol Verlag, Berlin 2023. 454 Seiten, 36 Euro. E-Book: 29 Euro.

Zwei Beiträge haben dann aber doch auch noch den russischen Überfall auf die Ukraine zum Thema. Katja Makhotina nimmt eine kritische Inventur der Kriegserinnerungen vor und fragt in ihrem lesenswerten Aufsatz, wie man das “Nie wieder” nach dem 24. Februar 2022 in Deutschland und Osteuropa interpretiert und was dabei auch gern vergessen oder überdeckt wird. Und auch dieser Text endet wieder bei Zarusky, der sich “stets geweigert” habe, “auch nur den Ansatz einer Hierarchisierung von Opfern zu akzeptieren”, so Makhotina. Und auch Irina Scherbakowa, Mitgründerin der inzwischen verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, geht auf Zaruskys “humanistischen Ansatz” ein, seine große Zuneigung zum Romanautor Wassili Grossmann (“Leben und Schicksal”, ” Stalingrad”) und was er von diesem in Deutschland immer noch kaum bekannten Autor nach eigenen Worten gelernt hat: “Was dem Einzelnen widerfährt, zählt, und die historischen Kräfte, denen er ausgeliefert ist, sich ausliefert oder widersetzt, müssen sichtbar gemacht und erklärt werden.”

Wissenschaft verbunden mit Empathie also. Für viele zu mühsam, für manche ganz leicht.

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