Der Mythos vom Stadt-Land-Gegensatz

Es ist sehr verdienstvoll, dass sich die F.A.Z. dem Verhältnis von Peripherie und Zentrum mit einer lokalen Tiefenbohrung im uckermärkischen Prenzlau widmen will (siehe F.A.Z. vom 13. Januar). Denn in den Diskursen über die Proteste von Bauern und ihren Verbänden gegen die haushaltspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung mischt sich eine Erzählung, die umso mehr an Fahrt gewinnt, je länger die Treckerkolonnen durchs Land ziehen: die Benachteiligung von dem, was „Land“ genannt wird, gegenüber „der Stadt“. Schon diese beiden Begriffe haben erhebliche Unschärfen, sie werden selten präzise definiert (weil das nicht trivial ist), und sie entsprechen nicht der komplexen Wirklichkeit der meisten europäischen Länder. Genauso wie es „die Landwirtschaft“ nicht gibt, lässt sich nicht pauschal von dem Land oder der Stadt reden: Denn es gibt quer durch Deutschland prosperierende und stagnierende Räume, sowohl in Stadtregionen, im ländlich-peripheren Raum als auch im stark gewachsenen Zwischenfeld — dem Stadtumland. Selbst innerhalb der Städte herrscht ein buntes Mosaik von „Auf und Ab“, von Arm und Reich – das anzuerkennen würde der Debatte mehr Sachlichkeit verschaffen.

Das Problem ist Teil eines größeren Spektrums gesellschaftlicher Ungleichheit, das keineswegs neu ist, aber sehr vielschichtige Themen berührt. Um diese Realitäten und ihre historischen Wurzeln nachzuvollziehen, könnte man beispielsweise nach Oberschwaben, ins Emsland, in den Bodenseekreis blicken, wo das „Land“ eher wohlhabend ist. Oder – mit anderem Vorzeichen – nach Gelsenkirchen und Pirmasens, wo Städte mit strukturellen Anpassungsproblemen kämpfen. Dort lassen sich auch die in der Literatur populären Deutungen dieses Gegensatzes gut hinterfragen. Ebenso verdampft das einseitige Bild von „Land“ versus „Stadt“, sobald man genau hinschaut: urbanes akademisches Prekariat mitten in der Universitätsstadt; Armeen migrantischer Leiharbeiter in der metropolitanen Ökonomie; die vielen working poor. Dahinter stehen gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren, die die räumliche Entwicklung prägen – nicht umgekehrt. Raum taugt nicht zum Kulturkampf.

Das gilt schließlich für das von der Politik angeblich „vergessene“ Land. Nicht nur dass seit der Nachkriegszeit in Europa mit unfassbar viel Geld versucht wurde, räumliche Entwicklungs- und Wohlfahrtsunterschiede europaweit, national und regional abzubauen; dieses Geld fließt noch heute, der Erfolg ist durchwachsen, und es fließt auch dorthin, wo es eher Schaden anrichtet (Pendlerpauschale!) oder aber schlicht verbrannt wird. Dass die Politik ganze Landstriche vergessen hätte, ist ein Mythos. Wie viele Abgeordnete vertreten nichtstädtische Wahlkreise in Berlin, und zwar so versiert, wie es ihrem Mandat entspricht?

Planung ist unpopulär

Das Problem liegt anderswo: Parlamente und Regierungen sind heute neben vielen Krisen mit Ansprüchen aus der Gesellschaft und Partikularinteressen konfrontiert, denen sie nicht gleichermaßen gerecht werden können. Und es gibt auch keine „Raumordnung“ mehr, ebenso wie kluge Stadtplanung verstärkt unter den Druck von Einzelinteressen geraten ist. Planung ist unpopulär und klingt sozialistisch; sie muss enorme Komplexität beherrschen und wird zugleich assoziiert mit dem starken Staat, den angeblich niemand mehr will. Planung ist umstritten, egal was geplant wird — gerade bei denen, die das Wort der Freiheit gern in den Mund nehmen, aber die Konsequenzen dieser Freiheit kritisieren, sobald ihre eigenen Interessen tangiert sind.

Die „Stadt – Land“-Debatte kratzt nur an der Oberfläche und ist in der Sache eher opportunistisch als aufklärerisch. Sie entbehrt ihres empirischen Fundaments, das heißt, sie mag zutreffende Einzelbeobachtungen artikulieren, die aber nicht repräsentativ sein müssen. Ihre Sprache lässt sich im Duktus der Übertreibung leiten von der schrillen Tonlage, die derzeit an den Rändern des politischen Spektrums herrscht. Wem das nützt? Anstelle der stetigen Produktion von Bildern und Mythen wünscht man sich mehr Realitätssinn, Zurückhaltung, Zivilität – und das Eingeständnis, dass es heute für viele Probleme keine einfache Lösung gibt, erst recht keine, die „alle“ gleichermaßen zufriedenstellt.

Der Autor ist Professor für Geographie und Raumplanung an der Universität Luxemburg.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World