Prozess beginnt am Montag: Reichsbürger vor Gericht
Im Dezember 2022 führten vermummte Polizisten Heinrich XIII. Prinz Reuß (2.v.r.), den mutmaßlichen Anführer, ab.
Markus L. fiel seinen Kollegen über Jahre durch zwei Dinge auf: In die Werkskantine brachte er manchmal zur Lektüre einen Waffenkatalog mit. Und sie staunten nicht schlecht, wenn sie ihn mit seinem feuerroten Chrysler Camaro (275 PS) durch Reutlingen am Rande der Schwäbischen Alb cruisen sahen. Markus L. galt in Ermittlerkreisen lange Zeit nur als Waffennarr mit lockeren Bezügen zur „Reichsbürgerszene“.
Am Montag wird er mit acht anderen Verdächtigen hinter der dicken Panzerglasscheibe des Verhandlungssaals in Stuttgart-Stammheim Platz nehmen. Der Arbeiter ist auch wegen versuchten Totschlags angeklagt, die Anklagen gegen die Mitbeschuldigten lauten „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ und „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“.
Das Stuttgarter Verfahren ist das erste von dreien, mit dem die sogenannte Verschwörergruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, einen Frankfurter Unternehmer, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden soll. In Frankfurt steht im Mai dann der „Rat der Reichsbürger“ vor Gericht, gewissermaßen die Kommandoebene der Gruppe. Dazu gehört auch der mutmaßliche Anführer des sogenannten militärischen Arms, ein ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr. Vor dem Oberlandesgericht in München müssen sich dann von Juni an mutmaßliche Reichsbürger verantworten, die eher zur Peripherie der Bewegung gehörten.
Am 23. März 2023 waren Polizisten zu einer Hausdurchsuchung bei Markus L. im Wohngebiet Ringelbach in Reutlingen gekommen. Mit einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr schoss er von einem Drehsessel im Wohnzimmer aus mehr als zwanzigmal auf die Beamten des Spezialeinsatzkommandos (SEK). Es grenzt an ein Wunder, dass er niemanden lebensgefährlich verletzte. Ein Polizist erlitt schwere Verletzungen am Arm. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) besuchte den Tatort und sprach von einem „perversen Waffenarsenal“. In Stuttgart dürfte dieser Fall wohl auch eine Rolle spielen, weil die Generalbundesanwaltschaft damit die Gefährlichkeit der Organisation untermauern kann.
Thomas Strobl (CDU), Innenminister von Baden-Württemberg
„Militärischer Arm“
Nach den Ermittlungen und laut Anklage der Generalbundesanwaltschaft gründeten sich die Reichsbürger im November 2021. Im Februar 2022 waren die Strukturen der staatsfeindlichen Bewegung gefestigt. Diese Organisation habe es sich zum Ziel gesetzt, „die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland insbesondere durch den Einsatz militärischer Mittel und Gewalt gegen staatliche Repräsentanten zu überwinden und durch eine eigene, bereits in Grundzügen ausgearbeitete Staatsform“ zu ersetzen. Die mutmaßlichen Reichsbürger sammelten Spendengelder, sie horteten 382 Schusswaffen und fast 150.000 Munitionsteile. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass die 27 Angeklagten die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen.
Die Mitglieder der Gruppe wurden schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet – bei Androhung der Todesstrafe. Zentrales Organ war der Rat, für die Zeit nach dem geplanten Staatsstreich waren Regierungsmitglieder für Justiz, Außen, Militär und Gesundheit bestimmt, zur realen Durchsetzung wurde ein „militärischer Arm“ gegründet.
Ein militärischer Stab sollte nach den Ermittlungserkenntnissen der Generalbundesanwaltschaft „Heimatschutzkompanien“ aufbauen – kasernierte und bewaffnete Verbände, die nach der Machtübernahme „Säuberungen“ und „Aufräumarbeiten“ organisieren sollten. Geplant worden seien mehr als 200 solcher „Heimatschutzkompanien“ – zwei sollen im Dezember 2022 schon existiert haben. Besonders weit fortgeschritten war der Aufbau der „Kompanie 221“ mit mehr als zwanzig Mitgliedern im Südwesten.
Ziel der Reichsbürger soll gewesen sein, mit dem Aufbau dieser Militärverwaltungsstruktur weitere Soldaten, vor allem das „Kommando Spezialkräfte“ (KSK) in Calw, sowie Polizisten zu rekrutieren. Auch sollten weitere Waffen und zusätzliche Munition beschafft werden. Vereinzelt veranstalteten die Mitglieder des „militärischen Arms“ auch Schießübungen und versuchten offenbar sogar, eine abhörsichere IT-Struktur aufzubauen. Bundeswehrveteranen und Soldaten, die beim KSK in Calw gedient hatten, spielten beim Austüfteln der Umsturzpläne eine besondere Rolle.
Im Unterschied zur RAF haben die Reichsbürger offenbar ein anderes Verhältnis zur terroristischen Tat, sind vermutlich weniger tatbereit: Während die RAF der Theorie anhing, man müsse mit provokativen Terrorakten den angeblichen Faschismus aus dem bundesrepublikanischen System herauskitzeln, um es dann zu beseitigen, sind die Reichsbürger der Auffassung, das verhasste System und der eigentlich gar nicht existierende Staat Bundesrepublik würden an einem Tag X, an dem es zu einem großen, unausweichlichen Blackout komme, von allein kollabieren.
Auf diesen Tag müsse man vorbereitet sein. Dann müsse die „Allianz“, zu der sie Militärs und Politiker wie Donald Trump zählten, die Repräsentanten des bösen „tiefen Staates“ ablösen. Deshalb machten sich die Reichsbürger Gedanken über die Ministerposten und planten, zumindest in Ansätzen, Kommandostrukturen zu etablieren, um Teil der herbeiphantasierten neuen Weltordnung zu sein.
Ein Problem des Verfahrens ist aus Sicht der Verteidiger die „künstliche Aufteilung“ auf drei Oberlandesgerichte: Das führe zu einer Ungleichzeitigkeit der Beweiserhebung. Was ist, wenn ein Oberlandesgericht nachweisen kann, dass es sich um eine terroristische Vereinigung gehandelt hat, und ein anderes nicht? Und: Zwar können die Verteidiger in dem Hauptverfahren in Stuttgart einen Angeklagten aus dem Frankfurter Verfahren als Zeugen vorladen, aber die Frage sei, ob sie, wenn sie den Beweisantrag schreiben, auf dem aktuellen Stand der Beweiserhebung der Verfahren sein können.
208 Reichsbürger mit Waffenschein
Die Stuttgarter Angeklagten sollen anders als die in Frankfurt keine Kontakte nach Russland gehabt haben. Verbindungen zur Partei „Die Basis“ und zur AfD spielten eine untergeordnete Rolle. Die Ermittler nehmen an, dass es zwei Triggermomente für die Reichsbürgerbewegung gab: erstens die Flüchtlingskrise von 2015, durch die Verschwörungstheorien vom „Genozid am deutschen Volk“ und vom „großen Bevölkerungsaustausch“ Hochkonjunktur hatten.
Noch gemeinschaftsbildender auf mutmaßliche Reichsbürger und Selbstverwalter wirkte aber die deutsche Pandemiepolitik. „Der Kitt dieser Bewegung sind Gruppen im Internet, die sich anonym verbinden und die sich über die angebliche tatsächliche Wahrheit austauschen. Diese Telegramgruppen sind ein Medium zur ständigen Selbstbestätigung“, sagt einer der Strafverteidiger.
Mit Blick auf gewalttätige, schießwütige Mitglieder der Gruppierung wie Markus L. warnte der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Andreas Singer, davor, die Verschwörergruppe zu verharmlosen: „Das sind keine netten Onkels, die irgendwelche komischen Ideen haben. Im Grundsatz handelt es sich um Leute, die der Auffassung sind, dass es die Bundesrepublik nicht gibt und man sich gegen sie wenden muss.“ Allein in Baden-Württemberg rechnet der Verfassungsschutz 3800 Personen der „Reichsbürger- und Selbstverwalter-Szene“ zu, das sind etwa 500 mehr als vor der Pandemie. 208 Reichsbürger haben einen Waffenschein.
Dennoch sind nicht alle so militant wie Markus L. Typisch für die Bewegung sind eher frühere Soldaten, die in Afghanistan gedient und über Jahrzehnte gelernt haben, nur in militärischen Kategorien zu denken. Oder Kleinunternehmer in einer Lebenskrise, die sich während der Corona-Zeit scheiden ließen, ihre Firma in die Insolvenz führten und sich sozial immer stärker isolierten.
Auf der Suche nach Schuldigen für ihre prekäre Lage saugen bestimmte Personengruppen die verschwörungstheoretischen Angebote der Reichsbürger-Telegramgruppen begierig auf. Postet dann jemand Umsturz- und Aufstandspläne und beteiligen sich an dem Chat weitere Personen – ist damit die Existenz einer terroristischen Vereinigung schon erwiesen? Allerdings gab es immer wieder auch persönliche Treffen wie Grillpartys in der bayerischen oder württembergischen Provinz.
In jedem Hauptverfahren muss die Staatsanwaltschaft von Grund auf beweisen, dass die Chatgruppen eine terroristische Vereinigung bildeten und nicht nur banale Freundschaften widerspiegelten. Die Bildung einer terroristischen Vereinigung wird mit einer Haftstrafe von maximal zehn Jahren bestraft. Ist auch die selten zur Anklage kommende Strafnorm der „Vorbereitung einer hochverräterischen Tat“ erfüllt, könnte die Strafe noch höher ausfallen.
Auf frühere rechtskräftige Urteile können sich die Richter nicht stützen: Ein so umfangreiches Verfahren, bei dem die Existenz einer terroristischen Vereinigung erst noch festgestellt werden muss, gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht. Deshalb wird sich der Stuttgarter Staatsschutzsenat am Montag mit unzähligen Beweisanträgen der insgesamt 22 Strafverteidiger befassen müssen.