Proteste in Georgien: "Es muss einen Anruf aus Russland gegeben haben"
Zehntausende protestieren in Georgien gegen ein Gesetz, das nach russischem Vorbild gestrickt ist. “Von der Regierung heißt es, dass es um Transparenz gehe. Aber faktisch geht es um Kontrolle”, sagt der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tiflis, Stephan Malerius.
Die georgische Regierung hat mit Gewalt auf zunächst friedliche Proteste reagiert.
Stephan Malerius: Er ist sehr breit. Seit gestern erfasst er auch die Regionen. Dort gab es in den sozialen Medien eine große Mobilisierung, Menschen wollten unbedingt zu den Demonstrationen nach Tiflis kommen. Das war sehr erfolgreich, viele kamen per Anhalter oder in Fahrgemeinschaften in die georgische Hauptstadt. In Tiflis wiederum gab es Menschen, die sich bereit erklärten, sie über Nacht aufzunehmen. Deshalb kann man sagen, dass es sich um einen landesweiten Protest handelt. Ob sich das auch in Demonstrationen in Telawi, in Kutaissi, in Batumi und anderen Städten des Landes niederschlägt, muss man abwarten.
Das Mandat der georgischen Regierung geht auf das Jahr 2020 zurück, da waren die letzten Wahlen. Für das, was sie gerade umsetzen will, hat die Regierung keine Mehrheit. Sie ist ja im vergangenen Jahr schon einmal mit demselben Gesetzesvorhaben gescheitert – damals hat sie den Gesetzentwurf nach massiven Protesten zurückgezogen. Dass sie noch einmal diesen Versuch startet, ist erstaunlich. In der Bevölkerung findet das auf keinen Fall Unterstützung.
Von der Regierung heißt es, dass es um Transparenz gehe. Aber faktisch geht es um Kontrolle.
Georgien ist ein demokratisches Transformationsland mit den üblichen Schwierigkeiten und Defekten. Die Justiz ist nicht unabhängig. Die Wirtschaft ist in weiten Teilen nicht unabhängig. Die Regionen unterstehen der Zentralregierung, die Verwaltung ist abhängig von der Regierung. Aber die Zivilgesellschaft ist kritisch und mutig. Das ist der Regierung ein Dorn im Auge. Auch die Durchführung der anstehenden Parlamentswahlen im Oktober wird von NGOs beobachtet werden. Das will die Regierung verhindern. Sie will die Kontrolle über die Zivilgesellschaft erlangen.
Dass es sich um ein russisches Gesetz handelt, ist ganz offensichtlich. Das Gesetz ist geschrieben nach dem Muster des russischen Gesetzes über “ausländische Agenten” von 2012. Die Zielrichtung ist ähnlich, selbst der Wortlaut ist ähnlich. Nichtregierungsorganisationen sollen kontrolliert werden, unter Umständen auch verboten oder ins Ausland gedrängt werden können. Man kann, nein, man muss davon ausgehen, dass die Wiedervorlage des Gesetzes auf russische Initiative erfolgt ist.
Die Regierungspartei hatte mit Blick auf die Wahlen im Oktober eigentlich nichts zu befürchten. Sie führt in allen Umfragen mit großem Abstand. Die Opposition ist zerstritten und verfügt über keinen charismatischen Anführer. Die Verleihung des Kandidatenstatus durch die Europäische Union im Dezember und die Qualifikation der Fußball-Nationalmannschaft zur Europameisterschaft hatten das Potenzial, die sehr tiefen Gräben im Land wenigstens in Teilen zuzuschütten. Jetzt sind die Gräben wieder offen, und sie sind tiefer als je zuvor. Deshalb hat das Vorgehen der georgischen Regierung alle Beobachter so verwundert. Die einzige Erklärung, die meine georgischen Gesprächspartner und -partnerinnen haben, war, dass es einen Anruf aus Russland gegeben haben muss.
Georgiens Parlament billigt “russisches Gesetz”
Beim georgischen Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse?
Nein, beim georgischen Oligarchen Bidsina Iwanischwili. Das ist der eigentliche Entscheidungsträger hier im Land – ein nicht legitimierter Entscheidungsträger. Er, so die Vermutung, ist genötigt oder überzeugt worden, das Gesetz noch einmal vorlegen zu lassen.
Auf dem Papier sind sie immer noch proeuropäisch, und die Partei nimmt für sich in Anspruch, auch zu Recht, dass sie viele wichtige Schritte in Richtung Europa unternommen habe: die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union, die Erreichung des visafreien Reiseverkehrs zwischen Georgien und der EU und auch die Verankerung des Ziels einer Mitgliedschaft in EU und NATO in der georgischen Verfassung. All das ist in der Amtszeit der aktuellen Regierung passiert. Aber die Regierung war natürlich auch getrieben.
Von der Bevölkerung. Die georgische Bevölkerung ist seit zwei Jahrzehnten konstant sehr proeuropäisch, mit Werten von über 80 Prozent. Eine solche Zustimmung zur EU gibt es in kaum einem anderen Land. Das heißt, die Regierung konnte gar nicht anders. Jetzt sagen viele, dass die Regierung das macht, was sie eigentlich will. Dass die Masken gefallen seien.
Georgiens Polizei geht hart gegen Proteste vor
Georgien gilt neben der Moldau als nächstes mögliches Ziel von Putin; zwischen Russland und Georgien gibt es ähnliche territoriale Konflikte wie zwischen Russland und der Ukraine nach 2014. Gibt die georgische Regierung Druck aus Moskau nach, weil sie Angst vor einem Einmarsch hat?
Diese Angst gibt es mit Sicherheit. Georgien ist weder Mitglied der NATO, noch hat es – wie Aserbaidschan mit der Türkei – eine verbündete Macht, noch ist es Mitglied der Europäischen Union. Georgien ist Russland letztlich schutzlos ausgeliefert. Die Grenze zu Russland ist mehrere hundert Kilometer lang. In Südossetien und Abchasien sind russische Truppen stationiert, und es wäre für Russland ein Leichtes, diese Truppen zu mobilisieren und, wie es bereits 2008 passiert ist, nach Georgien marschieren zu lassen. Damals standen die Russen in Gori, was nur fünfzig Kilometer von Tiflis entfernt ist. Einer möglichen russischen Aggression hätte Georgien nichts entgegenzusetzen.
Ja. Es ist auch eine neue Qualität. Proteste gegen das Vorhaben der Regierung gibt es bereits seit ein paar Wochen, bisher waren sie immer friedlich. Ich habe Situationen erlebt, in denen Demonstranten sich unmittelbar einem Polizeikordon gegenübersahen. Sie haben die Hände gehoben, um zu signalisieren, dass sie friedlich sind. Das ist seit vorgestern vorbei. Im vergangenen Jahr sind bei den Protesten gegen dasselbe Gesetz schon am zweiten oder dritten Tag Wasserwerfer aufgefahren, was auch damals absolut unverhältnismäßig war. Wie damals muss die Anordnung aus dem Innenministerium kommen. Das hat eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, deren Ende wir noch nicht absehen können.
Wenn das Gesetz verabschiedet wird und in Kraft tritt, wird der Kandidatenstatus auf jeden Fall eingefroren. Mit Georgien würden nicht – wie seit Anfang des Jahres mit der Moldau und der Ukraine – Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Die Kooperation würde überprüft und möglicherweise reduziert. Das Gesetz würde in den Beziehungen zwischen der EU und Georgien großen Schaden anrichten.
Das Schlüsseldatum war 2008 der NATO-Gipfel in Bukarest. Dort beantragten die Ukraine und Georgien den Beitritt und die Amerikaner signalisierten Bereitschaft, dem zuzustimmen. Frankreich und Deutschland trugen das nicht mit, faktisch legten sie ein Veto ein. Ob das eine richtige Entscheidung war, wird bis heute diskutiert.
Nach der Polizeigewalt gegen die Protestierenden müsste die Einstufung auf den Prüfstand gestellt werden, vor allem, wenn sich das fortsetzt, wovon ich derzeit ausgehe. Aber strukturelle Gewalt gegen Andersdenkende oder Minderheiten gab es bis jetzt nicht – mit Ausnahme der LGBTQ-Community. Insofern war die Entscheidung im Dezember nachvollziehbar.
Georgier gehen gegen Gesetz im Stile Russlands auf die Straße
Welche Rolle spielt die Vereinigte Nationalbewegung von Ex-Präsident Micheil Saakaschwili?
Die Vereinigte Nationalbewegung ist die größte Oppositionspartei im Parlament, und sie hat immer noch einen sehr festen Wählerstamm. Bei den Wahlen im Oktober wird sie auf jeden Fall wieder ins Parlament einziehen. Aber bei den Protesten spielt sie keine Rolle, die sind vor allem von Jugendlichen organisiert. Nach einer Reihe von Abspaltungen ist die Vereinigte Nationalbewegung geschwächt. Aus meiner Sicht ist sie nicht die treibende Kraft einer politischen Veränderung, die das Land dringend braucht.
Das wissen wir noch nicht. Wir sind als georgische NGO registriert, aber in dieser Registrierung heißt es auch, dass wir eine Dependance einer deutschen Stiftung sind. Denselben Status haben die anderen Stiftungen aus Deutschland: die Ebert-, die Böll- und die Naumann-Stiftung. Deshalb sind wir gerade dabei, herauszufinden, was das Gesetz für uns bedeuten würde. Aber man muss deutlich sagen, dass das Gesetz nicht gegen uns gerichtet ist, sondern gegen die starken georgischen NGOs, die zum Teil von uns unterstützt werden.
Im Raum steht der 17. Mai, dann soll die dritte Lesung stattfinden. Danach würde es zur Präsidentin Salome Surabischwili gehen, die angekündigt hat, ihr Veto einzulegen. Dafür hat sie zehn Tage Zeit. Täte sie das, ginge das Projekt zurück ins Parlament, wo die Regierung die Mehrheit hat, das Veto zu überstimmen. Es sind also noch einige Hürden zu nehmen.
Ich gehe davon aus.
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