Pro-palästinensische Proteste in Frankreich: Wie der Gazakrieg die Gesellschaft zerreißt
Studenten besetzen Hörsäle, Hochschulleitungen rufen die Polizei: Der Nahostkonflikt verhärtet auch an französischen Universitäten und im EU-Wahlkampf die Fronten.
Studenten besetzen Gebäude der Elitehochschule Science Po in Paris.
Nicht nur an amerikanischen Universitäten wird um die richtige Haltung zum Gazakrieg gestritten. Auch in Frankreich werden Universitäten besetzt, die Polizei greift ein und es gibt Strafanzeigen im beginnenden Europa-Wahlkampf.
Besonders an der Pariser Eliteuniversität Institut d’études politiques, kurz Sciences Po, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Situation an der Eliteschmiede hat sich zugespitzt, nachdem in der vergangenen Woche mehrere Dutzend junge Menschen das Gebäude besetzten. Schließlich griffen Sicherheitskräfte ein und evakuierten Hof und Gebäude.
Die Uni-Verwaltung organisierte nun am Donnerstag eine Debatte über den Nahost-Konflikt zwischen Studierenden, Professoren und Uni-Mitarbeitern. Sie hofft nach Wochen der lautstarken Pro-Palästinenser-Demonstrationen, Blockaden und Polizeieinsätze wieder auf Ruhe.
Premierminister Attal studierte auch an der Sciences Po
Premierminister Gabriel Attal, selbst ehemaliger Absolvent, versicherte, es gebe keine Toleranz gegenüber einer „gefährlichen Minderheit“, die angeblich radikale Ideologien aus den USA übernähmen. Bereits Mitte März war es zu Tumulten an der Sciences Po Paris gekommen, weil Kommilitonen laut Zeugenaussagen einer jüdischen Studentin mit den Worten „Lasst sie nicht rein, sie ist eine Zionistin“ den Zugang verwehrt haben sollen.
Die Präsidentin der Hauptstadtregion, Valérie Pécresse, hat die Finanzierung der Spitzenuniversität mittlerweile ausgesetzt. Einige wenige „Radikalisierte, die zum antisemitischen Hass aufrufen, dürfen nicht ihr Gesetz diktieren“, begründete sie ihre Entscheidung.
Der Nahost-Konflikt zerreißt die Gesellschaft in Frankreich, wo jeweils die größte jüdische und die größte muslimische Gemeinschaft in Europa leben. Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist im vergangenen halben Jahr um 1000 Prozent gestiegen.
Der Riss geht auch durch die Politik. Die Linkspartei LFI (La France Insoumise, „Das widerspenstige Frankreich“) hat die Unterstützung der Menschen in Gaza und die harsche Kritik an Israels Kriegsführung zu ihrem Hauptthema im EU-Wahlkampf gemacht.
Strafanzeigen gegen Linken-Politiker
Konferenzen zum Nahostkonflikt mit LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon und der französisch-palästinensischen Juristin Rima Hassan, die für LFI kandidiert, wurden an den Universitäten in Lille, Rennes und Bordeaux „aus Sicherheitsgründen“ abgesagt. Erzürnt darüber verglich Mélenchon den Direktor der Universität in Lille mit dem Nazi-Funktionär Adolf Eichmann.
Gegen Rima Hassan, LFI-Fraktionschefin Mathilde Panot und mehrere Gewerkschafter gingen Anzeigen wegen des Vorwurfs der „Verherrlichung des Terrorismus“ ein. Die Links-Partei lehnt es seit dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ab, die Angreifer als Terrororganisation zu bezeichnen.
Pro-palästinensische Organisationen klagten gegen einen franko-israelischen Soldaten, der sich auf dem Netzwerk Telegram der Folter eines palästinensischen Gefangenen gerühmt haben soll. Weitere Anzeigen gegen Militärangehörige mit doppelter Staatsbürgerschaft könnten folgen.
Kolonialgeschichte überlagert Holocaust
Die Soziologin Dominique Schnapper analysiert die Veränderungen in der Gesellschaft: Die Erinnerung an den Holocaust werde seit einigen Jahren durch jene an die Kolonisierung ersetzt, sagt sie dem Tagesspiegel. „Bei dieser Interpretation der Geschichte schwingt Antisemitismus mit, da die Juden als Unterdrücker und Weiße angesehen werden.“
Die ehemalige Direktorin der Pariser Eliteuniversität EHESS nennt die aktuellen Entwicklungen beunruhigend. „Alle großen Krisen begannen mit Antisemitismus. Das ist nicht nur bedrohlich für die Juden, sondern auch für unsere Demokratien insgesamt.“
Das Gesprächsangebot durch die Leitung von Sciences Po Paris sei wichtig, aber alle Beteiligten müssten auch offen für eine Diskussion sein. Das sehe sie angesichts der aktuellen Zuspitzung der Meinungen nicht, so Schnapper.
Bei der Haltung zum Nahost-Konflikt besteht eine große Kluft zwischen den Generationen.
Éric Fassin, Soziologe
Auch der Soziologie-Professor Éric Fassin sieht die Palästinenser-Frage im Zentrum der aktuellen politischen Debatten in Frankreich. Während die Rechten auf ältere Wähler setzten, spreche die linke LFI gezielt Jüngere und Studenten an – auch mit der Kandidatur von Hassan, einer jungen Frau mit palästinensischen Wurzeln. „Bei der Haltung zum Nahost-Konflikt besteht eine große Kluft zwischen den Generationen“, sagt Fassin dem Tagesspiegel.
Die Jüngeren sprechen demnach deutlich schneller von Genozid oder Apartheid. Auch Einflüsse aus anderen Ländern und den USA spielten eine Rolle. Dass Sciences Po als Lehrstätte für politische Wissenschaften bei den Studentenprotesten eine zentrale Rolle spiele, überrasche wenig.
„Aber es ist auch die Schule der Macht, die die Eliten ausbildet“, sagt Fassin. Die aktuellen Studenten wollten nun jene Regierungsmitglieder, die die Hochschule einst besuchten, zum Umdenken bringen.
Dem Soziologen zufolge spielt sich der Konflikt auch noch vor einem anderen Hintergrund ab: Die französischen Universitäten litten an mangelnder Finanzierung und die Regierung gehe gegen die akademische Linke vor, die angeblich dem Islam ideologisch nahestehe.
„Heute sehen wir die Folgen dieser Einschüchterungsversuche, aber auch die Anwendung von Repressionen: Die Polizei geht in die Universitäten, denen zudem droht, ihre Finanzierung zu verlieren“, so Fassin.
Wie in den USA handle es sich um ein zweischneidiges Schwert, da sich dadurch auch die Studierenden anderer Hochschulen und regionaler Ableger von Sciences Po mobilisierten, erklärt Fassin.
Zunehmend organisieren diese ebenfalls Aktionen, um eine Waffenruhe in Gaza zu verlangen und ihre Einrichtungen zu einem Stopp akademischer Partnerschaften mit israelischen Universitäten aufzurufen. Eine Forderung, auf die die Leitungen, auch jene von Sciences Po Paris, nicht eingehen.