Bayer 04 Leverkusen: Sie spielen miteinander, nicht nur nebeneinander

Xabi Alonso hat seiner Leverkusener Elf beigebracht, wie sie auf dem Platz zusammenspielt. Klingt banal, ist es aber nicht. Und keiner macht das so wie sie.

bayer 04 leverkusen: sie spielen miteinander, nicht nur nebeneinander

Florian Wirtz und seine Mitspieler aus Leverkusen

Sie haben es wieder getan. Lange hätte man auch im Viertelfinalhinspiel gegen West Ham United den Eindruck gewinnen können, dass die Leverkusener das Tor diesmal nicht treffen. Dann erzielten sie kurz vor Schluss wieder gleich zwei. Jonas Hofmann und Victor Boniface trafen nach Eckbällen in der 83. und 91. Minute, das 2:0 ist eine gute Basis für das Rückspiel.

Das Triple ist für Vizekusen wieder ein Stück wahrscheinlicher geworden. Deutscher Meister wird der Verein am Sonntag oder irgendwann in den nächsten Wochen. Das steht praktisch fest. Xabi Alonso übernahm Leverkusen als Tabellensiebzehnter, nun dominiert er die Bundesliga. Wie hat er das gemacht, warum ist seine Mannschaft 42-mal in Serie ungeschlagen, welchen Fußball spielt sie?

Entscheidend für den Erfolg von Bayer 04 ist, dass Xabi Alonso seiner Elf beigebracht hat, wie sie auf dem Platz zusammen agiert. Klingt vielleicht banal, aber einen solchen Zustand zu erreichen, ist alles andere als das. Die Spieler reagieren wie ein Schwarm auf die Bewegung des Balles und auf die Handlungen der Mitspieler.

Diese Einheit verteidigt gut, weil sie im Kollektiv vorgeht. Obwohl die Außenverteidiger Alejandro Grimaldo und Jeremie Frimpong rein offensive Spieler sind, hat Leverkusen nur 19 Gegentore kassiert, Bayern fast doppelt so viele. Man darf gespannt sein, sollte diese Abwehr bald in der Champions League auf ein Topteam treffen.

Was die Mannschaft vor allem auszeichnet, ist das Spiel mit dem Ball. Sie trägt die Handschrift des Basken Alonso, es handelt sich um spanisch beeinflussten Kombinationsstil. Kennt man von Man City, Arsenal oder Aston Villa und natürlich aus der spanischen La Liga.

In der Bundesliga ist Bayer jedoch die Ausnahme. Keine andere deutsche Mannschaft hält den Ball so sicher in den Reihen. Niemand baut das Spiel so strategisch, klar und fehlerarm auf. Kein Bundesligist verfügt über so viel Spielkontrolle. Man kann es in fünf Minuten erkennen: Diese Mannschaft hat einen Trainer. Und manch Fan, der Bundesliga gewohnt ist, wird sich fragen: Was machen die denn da, warum rennen die nicht wild hin und her wie all die anderen?

Welch ein Kontrast zum Rest der Liga, speziell zum FC Bayern, dessen Kader viel besser besetzt ist. Leverkusen hängt kaum von Einzelspielern ab. Dem Verein wurden Niederlagen während des Afrika-Cups im Januar und Februar prophezeit, weil einige Leverkusener dort dabei waren. Stattdessen wurde die Mannschaft noch stärker und gefestigter. Der Höhepunkt der Saison war der 3:0-Sieg gegen die Bayern. In diesem Spiel hatte Leverkusen ausnahmsweise seltener den Ball als der Gegner, aber Bayern schoss nie aufs Tor. Ein 90-minütiger Machtwechsel.

Drei Spieler stechen in Leverkusen hervor: Jonathan Tah, Granit Xhaka und insbesondere Florian Wirtz. Sie bilden die vertikale Achse Leverkusens. Tah organisiert die Abwehr, die in der Regel aus zwei weiteren Innenverteidigern besteht. Alonso hat ihm das beigebracht, ebenso wie das Freilaufen.

Wirtz’ Alleingänge sind eingefügt ins Ganze

Tah ist der Hauptverantwortliche für die Spielentwicklung. Er schlägt den Ball fast nie lang, sondern leitet ihn eine Station nach vorn, meist ins Zentrum zu Granit Xhaka oder Exequiel Palacios (oder Robert Andrich, falls der spielt). Tah hat eine Passquote von 97 Prozent.

Xhaka gestaltet den Spielaufbau mit. Der Schweizer ist nicht der Weltklassespieler, zu dem ihn manche machen wollen, Arsenal hat ihn nicht mehr gebraucht. Aber er ist ballsicher, hat eine gute Übersicht, seine Leistungen schwanken nie. Er ist eine Holding 6, also ein zentraler Mittelfeldmann, seine Aufgaben sind fast zu gleichen Teilen in Defensive und Offensive verteilt.

Und Wirtz ist Leverkusens bester Kicker. Seine Aufgabe ist es, den Ball auf die 10er-Position zu schleppen oder dort anspielbar zu sein. Diese Situation sieht man oft: Wirtz, an der Strafraumgrenze, mal zentral, mal seitlich versetzt, klebt der Ball am Fuß, er sucht nach Optionen. Höchste Gefahr für den Gegner.

Dabei zieht Wirtz zwei, drei Gegenspieler auf sich, dann schießt er oder wagt ein Dribbling in den Strafraum. Oft setzt er auch seine Nebenleute ein. Die machen sich bereit, laufen in Stellung. Grimaldo kann mit einem Steilpass rechnen, Patrik Schick mit einem scharfen Anspiel in den Fuß, Boniface mit einer Flanke, Hofmann mit einer Quervorlage, vielleicht geht auch diagonal etwas für Frimpong. Der Individualist Wirtz spielt mit seinen Mitspielern, seine Alleingänge sind eingefügt ins Ganze.

Kurzer Blick zur Konkurrenz: Jamal Musiala ist noch schwerer vom Ball zu trennen. Er windet sich aus schwierigsten Situationen, in die er sich stürzt. Aber die Anschlussaktion führt selten zu einem sinnvollen Zweck, er dribbelt manches Mal ins Nirvana. Seine Mitspieler scheinen nicht zu ahnen, was er vorhat. Er spielt neben ihnen, sie bleiben stehen.

Da sieht man den Ertrag des Trainers Alonso, der bei den Besten wie José Mourinho, Pep Guardiola und Carlo Ancelotti gelernt hat. Seine Spieler wissen, was der Mitspieler kann und was nicht, was er machen könnte, was in seinem Kopf vorgeht.

Und sie halten Verbindung. Würde man zum Beispiel während des Spiels mit digitalen Linien ein Dreieck über das Zentrum Xhaka, Andrich und Wirtz ziehen, würden dessen Winkel und Seitenlängen wenig variieren. Zum Vergleich: Emre Can, Marcel Sabitzer und Julian Brandt verlieren sich auf dem Platz, das Gleiche gilt für Leon Goretzka und Konrad Laimer.

Granit Xhaka hat der FAZ einen Einblick in die Abläufe gegeben. “Man muss sehen, auf welchem Fuß ein Mitspieler den Ball weiterverarbeiten kann, obwohl er einen Gegner direkt im Rücken hat”, sagte er vor ein paar Wochen. “Hinter fast jedem Pass steckt eine Idee, die noch andere Stationen einschließt.” Manchmal spiele er extra einen riskanten Pass, “um Gegenpressing-Situationen heraufzubeschwören”. Leverkusen lockt den Gegner also in Fallen, um ihn zu nerven oder Raum zu gewinnen. Das ist schlauer Fußball. Ein Abbild ihres Trainers, des Mittelfeldstrategen.

Im Zusammenspiel passen alle Details: Timing, Richtung, Tempo. Das gibt der Mannschaft Stabilität. Leverkusen hat mit Abstand den höchsten Standard, das Mindestniveau, das die Mannschaft immer erreicht, liegt viel höher als beim Rest. Dank ihrer strategischen Überlegenheit genießt die Bayer-Elf ein leichtes Leben in der Bundesliga. Sie bestimmt fast immer, wo es langgeht. Großes Risiko muss sie nicht eingehen, um den Gegner in dessen Hälfte einzuschnüren.

Gegen Bayern trat Alonso etwas defensiver auf, Stuttgart konnte Leverkusen eine Halbzeit lang gefährden. Doch schon Teams wie Dortmund und Frankfurt können nur auf Konter und Glück setzen, wenn sie Bayer schlagen wollen. Borussia Mönchengladbach wirkte beim Auswärtsspiel im Januar wie eine Truppe aus den Achtzigern. Sie stellte sich 90 Minuten hinten rein und bolzte nach vorn.

Kurioserweise gelang Gladbach ein 0:0, es war das einzige der vergangenen 14 Bundesligaspiele, das Leverkusen nicht gewann. Da schossen sie halt mal alles vorbei. Das kommt vor, zumal Alonso über keinen Torjäger wie Harry Kane verfügt. Überhaupt gewinnt die Bayer-Elf oft knapp. Tore erzielt sie nach dem Prinzip “viel hilft viel”. Gegen West Ham schoss sie mehr als 30-mal aufs Tor. Großchancen waren kaum darunter, aber irgendwann gingen zwei rein. Zur Not nach Standardsituationen.

Damit sind wir bei einer speziellen Leverkusener Fähigkeit: den Last-minute-Siegen. Die reiht Leverkusen nur so aneinander, in diesem Jahr bereits gegen Hoffenheim, Leipzig, Stuttgart, Augsburg, Qarabağ Ağdam. Aus Bayerndusel wurde Bayerdusel, aus Gründen.

Die Leverkusener bringen den Ball einfach mit zuverlässiger Regelmäßigkeit problemlos in die gefährlichen Zonen. Wer so überlegen ist wie sie, der kann am Ende das Risiko noch mal erhöhen. Erst leicht, dann ein bisschen mehr. Der Stress für die eh schon müde Abwehr wird größer, die Übersicht geht verloren, irgendwann ist die Lücke da.

Der Rest ist Glaube, Überzeugung und Willen, den besten Trainer der Liga happy zu machen – auch ein bisschen Glück. Das hat sich Bayer Leverkusen dieses Jahr aber wirklich verdient.

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